Digitalisierung und Inklusion: barrierefrei Information mit der Capito App

capito app zwei mobile phones mit der capito app

Klaus, du bist aus Wien angereist, um am ersten Impuls Workshop "Barrierefrei: mit Innovation und Digitalisierung zur Inklusion" des staatslabors im Juni teilzunehmen. Nochmal ein grosses Dankeschön dafür! Am Workshop hast du capito präsentiert, eine App, welche Inklusion fördert und die ihr bei atempo entwickelt habt. Könntest du uns in wenigen Sätzen erklären worum es sich dabei handelt?

Nun, genaugenommen bin ich nur über Wien angereist. atempo kommt aus Graz, im sonnigen Süden Österreichs. capito und Inklusion hängen so zusammen: Wer Informationen – etwa von Behörden, in Skripten oder guten Zeitungen – nicht versteht, kann seine Rechte als Bürgerin nicht selbst wahrnehmen, Vieles nicht lernen und nicht selbständig am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. "Leicht Lesen" Angebote, also leicht verständlich geschriebene Informationen, sind da hilfreich.
Aber was Menschen verstehen und was nicht, ist individuell sehr verschieden und hängt von vielen Faktoren ab. Die capito-App setzt daher gleich auf ein völlig neues Informations-Design. Nicht der Absender, sondern die EmpfängerInnen selbst wählen, welches Sprachniveau und welche Form von Info für sie am besten passt. Alle bekommen z.B. den selben Info-Folder wie bisher – nur jetzt trägt der einen QR-Code. Den scannt man mit der gratis capito-App auf seinem Smartphone oder Tablet und schon kann man aus dem Angebot wählen, das wir im Backend an Info aufbereitet haben: Will ich den Folder in ganz einfachen Worten oder im Original lesen? Lasse ich mir den Text vorlesen oder konsumiere ich ihn via Gebärdensprach-Video? So können Menschen endlich selbst entscheiden, wie es für sie am besten passt!

Wie seit ihr dazu gekommen? Ist das Projekt durch die Möglichkeiten der Technologie getrieben, durch eine konkrete Nachfrage der Bürger oder reagiert ihr damit sogar auf eine Nachfrage der Verwaltung?

Von allem etwas! Ausgangspunkt war tatsächlich der Ehrgeiz einer Sozialbehörde, konkret der Forderung der UN Behindertenrechtskonvention nach verständlicher Information zu folgen und Bescheide und Verfügungen zu erstellen, die Bürgerinnen und Bürger wirklich verstehen können. capito hat das mit der Behörde in der klassischen Papier-Form umgesetzt. Dazu kamen dann viele positive Rückmeldungen und auch die Zahl der Rekurse ging signifikant zurück.
Manche fühlten sich aber dadurch auch stigmatisiert. Quasi nach dem Motto: Die schicken mir einen Leicht Lesen Bescheid; halten die mich denn für dumm?
Auch wenn das natürlich nicht so ist, nahmen wir den Einwand ernst: Unser Ziel ist es ja, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten und Behinderung möglichst viel selbst bestimmen können. Also auch darüber, wie Information am besten für sie passt. Und weil das individuell verschieden ist, muss eben auch das Informations-Design diesen Bedürfnissen angepasst sein: Von einer Zusammenfassung in ganz leicht verständlicher Sprache über eine Version für „Olga & Otto Normalverbraucher“ bis zum Original in Fachsprache. Das alles mit Vorlesefunktion und wenn gewünscht auch mit Gebärdensprachvideos.
Die Technik gab uns jetzt die Möglichkeit in die Hand, diese "eierlegende Wollmilchsau", die alles kann, zu programmieren: die capito Leicht Lesen App.

Für welche Arten von Text und welche Zusammenhänge wurde capito bisher angewendet? Und wo siehst du im öffentlichen Sektor noch ungenutztes Potenzial?

Nun, von den Sektoren her war es naheliegend, dass leicht verständliche Information für den Sozialbereich ein "Muss" darstellt. Sozialorganisationen möchten diese in der Regel selbst herstellen können, also haben wir da Partnerschaftsmodelle zur Weitergabe von capito Know-how entwickelt.
Behörden gehören aufgrund der Rechtslage – EU Gleichstellungsgesetzgebung, UN-Konvention – ebenfalls zu den "Muss"-Kunden. Und da darf ich ausnahmsweise mal Österreich loben. Hier getrauen sich Behörden sogar Gesetze im Leicht Lesen Format zu veröffentlichen.
Nicht erwartet hatten wir das große Echo, das capito Dienstleistungen in der For-Profit-Wirtschaft finden. Immer mehr Unternehmen erkennen den monetären Nutzen verständlicher MitarbeiterInnen- oder KundInnen-Information.
Gerade mit den neuen Info-Design-Möglichkeiten der capito App entdecken aber auch immer mehr Behörden, dass sie durch das Bereitstellen verständlicher Information neben der Pflichterfüllung auch geldwerte Einspar-Effekte – etwa bei den Druckkosten - lukrieren und dabei gleichzeitig die Info-Qualität verbessern können. 
Um diese Potentiale optimal zu nutzen, sollten alle Ressorts ihre Grundhaltung überprüfen: Leicht zugängliche und leicht verständliche Information ist keineswegs bloß ein „soziales“ Anliegen. Sie sind in allen Bereichen die Basis für wirklich gutes Bürger-Service.
Interessanterweise hat hier in Österreich zuvorderst der Kulturbereich den Elfenbeinturm verlassen und eine Pionier-Rolle dabei übernommen, seine oft sehr hochgestochenen Texte via QR-Code und App auch breiten Bevölkerungsschichten zugänglich zu machen.

Wenn ich eine schweizerische Behörde bin und mich dafür interessieren würde, capito zu testen, wie würde das konkret ablaufen? Welche Art von Ressourcen sollte ich für den Anfang zur Verfügung stellen?

Nahezu alle – oft schon über zehnjährigen – capito Kundenbeziehungen mit Behörden starteten mit einem Pilotprojekt. Meist gab es zuvor Frust bei den Beamten, weil man zwar um die Verpflichtung zu Leicht Lesen Info wusste, aber keine praktikable Methodik dafür hatte.
Testobjekt für den Einsatz der capito App könnte etwa ein herkömmlicher Flyer oder Folder sein, der mittels QR-Code(s) zu komplett barrierefreier Information führt: Zu Leicht Lesen Varianten, zu Vorlesefunktion für blinde Menschen und Gebärdensprach-Videos für gehörlose Bürgerinnen. Hier zahlt die Behörde (außer für die Übersetzungen und Videos) nur einen einmaligen Beitrag für den QR-Code (genaugenommen für die Wartung des Systems im Hintergrund) und erspart sich Druckkosten für diverse gedruckte Sprachvarianten des Flyers.
Thematisch muss sich das gar nicht auf den Sozial-oder Behindertenbereich beschränken. Immer, wenn – auch – Menschen mit geringer Schulbildung oder mangelnden sprachlichen Kompetenzen erreicht werden sollen, schlägt die Stunde von capito: etwa bei Informationen zum Wählen, zur Sozialversicherung oder etwa Arbeitsmarkt-Regeln für Migrantinnen.
Individuelle Bescheide oder Verfügungen, mittels QR-Code personalisiert im Leicht Lesen Format, das ist dann die wirklich hohe Schule. Und wenn die Vorlesefunktion erst mal Schwizerdütsch kann, dann bekommt die capito App das Schweizerkreuz als Gütesiegel, oder?
 
Oft kommt auch er Einwand: "Aber nutzen denn Menschen mit Behinderung überhaupt Smartphones und QR-Codes?"
 
Diesen Einwand hören wir oft. Die Antwort ist klar: Genutzt wird à la longue, was Nutzen bringt.
Ja, junge Technologien sind nicht gleich jedermanns Sache. Andererseits sehen wir, wie die Durchdringung faktisch in immer kürzeren Intervallen stattfindet.
Eine Hamburger Studie zeigt, dass Menschen mit Behinderung Smartphones in höherem Maß nutzen, als die durchschnittliche Bevölkerung. Das hängt wohl mit deren einfacher Benutzbarkeit zusammen. Für Personen mit Migrationshintergrund sind Smartphone und mobiles Internet die beste Verbindung zur Heimat.
Wichtig auch: Beim Vergleichen vergessen wir gern, dass eben gerade die herkömmliche, textbasierte Information nur von knapp der Hälfte der Bevölkerung verstanden wird. Lt. PublicsMedia hält die Schweiz hingegen aktuell bei einer Smartphone-Nutzungsrate von etwa 90 Prozent.