Öffentliche Innovation in der Praxis: unser Interview mit Françoise Waintrop, Innovationsverantwortliche der ENA

Francoise Waintrop, ENA

«Solange wir 20-seitige Formulare erstellen, bleiben wir bei der alten Verwaltung». Das sagte Françoise Waintrop, Innovationsbeauftragte an der Ecole Nationale d’Administration (ENA) in Frankreich, im Rahmen eines staatslabor-Seminars im vergangenen Mai im IDHEAP in Lausanne. Die Spezialistin für Modernisierung des Staates verdeutlichte ihren Standpunkt mit Erkenntnissen der französischen Revenu de solidarité active (RSA), welche diverse Formularvarianten testete: «Eines der Formulare wurde in 70% der Fälle gar nicht ausgefüllt, da es schlicht zu kompliziert war». Im Nachgang des Besuchs nutzten wir die Möglichkeit, die Diskussion über die Bedeutung öffentlicher Innovation mit der ehemaligen Leiterin des Projekts «nudge» am Sécrétariat général de la modernisation de l’action publique (SGMAP) zu vertiefen.

Frau Waintrop, es war uns eine grosse Freude, Sie zu Beginn des Sommers in Lausanne begrüssen zu dürfen. Um unser Gespräch wieder aufzunehmen: Warum ist Innovation im öffentlichen Sektor so wichtig?

Weil wir dessen Arbeitsweisen verändern und agiler machen müssen. Dem öffentlichen Dienst wird oft vorgeworfen, er sei schwerfällig, schwer zu verwalten und schwer weiterzuentwickeln. Innovation hingegen ermöglicht es, Lösungen zu finden, flexibler zu sein und die kollektive Intelligenz zu nutzen. Früher hat man dafür externe Berater eingesetzt. Heute ist man sich stärker bewusst, über welches Wissen man bereits verfügt - sei es intern, dank den Staatsangestellten, oder dank den Bürgerinnen und Bürgern, welche die staatlichen Dienstleistungen nutzen.

Können Sie uns konkrete Beispiele für öffentliche Innovation nennen? 

Es existiert eine Vielzahl an Projekten. Momentan wird gerade diskutiert, wie wir bei einer zunehmenden Digitalisierung der Dienstleistungen jene “user” unterstützen können, die Mühe bei der Anwendung des Internets und neuer technischer Hilfsmittel haben. Dazu laufen mehrere Projekte, unter anderem mit der ENA, mit Gemeinden und mit dem Labor «Brasserie des IDs» (Labor der Region Grand Est). Das Thema lässt sich nur richtig bearbeiten, wenn ein Verständnis für die potenziellen Schwierigkeiten der Nutzerinnen und Nutzer besteht.

Inwiefern unterscheidet sich der Prozess der öffentlichen Innovation von jenem des privaten Sektors? 

Ich weiss nicht, ob es wirklich viele Unterschiede gibt. Im Grunde sind wir ein wenig wie die grossen Unternehmen. Auch wir müssen Wege finden, um Handlungsmöglichkeiten innerhalb eines vorgegebenen Rahmens zu schaffen. Auch wir möchten Aufwände optimieren. Unsere Stärke mag jedoch in der Fähigkeit liegen, gemeinsam Lösungen zu finden sowie in der Beherztheit, mit der sich Staatsangestellte für diese Lösungen einsetzen. 

Ist die Präsidentschaft von Emmanuel Macron vorteilhaft für die öffentliche Innovation?

Wir erhalten keine direkten Anweisungen von Emmanuel Macron. Mag sein, dass er im Sinn hat, die ENA weiterzuentwickeln, und dass er zum Digitalen tendiert, ist klar. Aber ich habe nicht den Eindruck, dass er bei digitalen Entwicklungen eine entscheidende Rolle spielt. Dafür ist eher die regionale Ebene wichtig. Im Übrigen ist Innovation selten das Resultat von Politik.... ausser vielleicht in lokalen Gemeinwesen.

Wie können jetzige und zukünftige Mitarbeitende im öffentlichen Dienst von der Wichtigkeit der Innovation überzeugt werden?

So abstrakt ausgedrückt würde es die Leute wohl eher abschrecken. Wir verstehen grob, was der Begriff bedeutet, aber genauso ist er auch umstritten. Wir müssen von den konkreten Lösungen ausgehen. Können diese nicht mit klassischen Ansätzen gefunden werden, sucht man sie automatisch mit anderen, flexibleren Methoden. So macht es auf einmal Sinn, verschiedene und manchmal wirklich innovative Wege einzuschlagen.

Warum ist der Design-Ansatz, welchen Sie in Ihrer Rede im IDHEAP erwähnt haben, wichtig?

Gerade weil er es ermöglicht, die eigene Arbeit auf das Anwenden und Nutzen auszurichten. Dadurch verändert der Ansatz unsere Vorstellung von Verwaltung und Dienstleistungen. Wie diese genutzt und angewendet werden ist wichtig und nicht, dass wir eine digitale Revolution predigen. Der Fokus muss auf die Bedürfnisse gerichtet werden. Der Design-Ansatz ermöglicht genau dies, da er beinhaltet, die Benutzerwege zu beobachten und nachzuzeichnen. Ein weiterer Vorteil zeigt sich in der Möglichkeit, verschiedene Prototypen herzustellen und zu testen, anstatt direkt eine einzige, identische Lösung für alle zu finden. Auch wenn es für hohe Staatsangestellte nicht immer offensichtlich scheint, wird staatliche Politik eben oft durch ganz gewöhnliche Objekte in den Alltag der Menschen übersetzt - sei es durch eine Webseite, durch ein Formular oder durch andere materielle Gegenstände. 

In Ihre Überlegungen integrieren Sie auch verhaltensorientierte Ansätze. Warum? 

Öffentliche Politik hat oft eine Verhaltensgrundlage. Nehmen wir den Kampf gegen die Fettleibigkeit als Beispiel: Man kann den Menschen das Essen nicht verbieten. Im Gegenzug können wir aber auf die grossen Lebensmittelkonzerne Einfluss nehmen, indem wir ihnen bestimmte Vorgaben auferlegen. Im Endeffekt zählt allerdings das Verhalten jeder einzelnen Person. Dieselbe Logik gilt auch für die nachhaltige Entwicklung. Egal was gesagt wird, am Ende entscheidet trotzdem jeder selber, ob er nun zu viel Wasser im Boiler erhitzt oder nicht. Nicht alles kann mit Bussen oder Strafen gelöst werden. Um wirksam zu sein, ist die Integration dieser Verhaltensdimension notwendig. In diesem Zusammenhang arbeiten wir etwa auch an der Identifizierung verzerrter Wahrnehmungen.

Wie haben sich diese Ansätze im Verlauf Ihrer Karriere entwickelt?

Die Situation verändert sich nur langsam. Aber man spürt klar, dass die Antworten von externen Consultants allein nicht mehr zufriedenstellend sind und in vielen Regionen eine andere Arbeitsweise gesucht wird. Im Jahr 2015 kontaktierte uns beispielsweise die Stadt Villeurbanne, welche die körperliche Aktivität älterer Menschen steigern wollte. Uns fehlten die Mittel für ein eigenes Projekt, jedoch organisierten wir einen Workshop und schulten die städtischen Angestellten in «nudge», einem Konzept, das man als «helfende Hand» übersetzen könnte und Teil der Verhaltenstheorie bildet. Das Vorgehen verfolgte dabei ein doppeltes Ziel: Einerseits gute Ideen zu finden, andererseits die Mitarbeitenden in neuen Arbeitsformen auszubilden.

 

Im April 2017 wurde Françoise Waintrop zur Innovationsverantwortlichen an der ENA ernannt. Seitdem hat sie neue Unterrichtsformen entwickelt, die Konzepte und Praktiken aus Feldstudien, öffentlichem Politik-Design, Verhaltenswissenschaften und digitalen Werkzeugen vereinen. Zuvor leitete sie die Abteilung «méthodes d'innovation» im Sécrétariat général de la modernisation de l’action publique (SGMAP), wo sie die ersten «nudge»-Experimente in Frankreich durchführte, das Innovationsnetzwerk «futurs publics» lancierte sowie ein Programm zur Vereinfachung und Verbesserung der öffentlichen Dienstleistungsqualität einführte. Letzteres bezieht das Nutzungsverhalten der Bürgerinnen und Bürger mit ein. Sie wirkt häufig in internationalen Instanzen wie der OECD und der Europäischen Kommission mit, wo sie zur «Expertin für öffentliche Innovation» ernannt wurde. Unter anderem beteiligte sie sich an der Ausarbeitung einer Charta für Bürgerinnen und Bürger und ihrer Beziehung zur Digitalisierung. Fünf Jahre lang leitete sie gemeinsam mit Kanada das Observatory of Public Sector Innovation (OPSI) des OECD.