Öffentliche Innovation in der Schweiz: eine kleine Bestandsaufnahme mit Owen Boukamel, Forscher am IDHEAP

Owen Boukamel

Herr Boukamel, zunächst einmal vielen Dank, dass Sie sich bereit erklärt haben, dem staatslabor ein paar Fragen zu beantworten. Sie sind Forscher am Hochschulinstitut für öffentliche Verwaltung (Institut des hautes études en administration publique – IDHEAP) und Spezialist für Innovation im öffentlichen Bereich. In letzter Zeit befasste sich Ihre Forschung auch mit der Schweiz. Daher meine erste Frage: wie weit sind wir im Vergleich mit anderen Ländern in Bezug auf öffentliche Innovation, und welche schweizerischen Besonderheiten lassen sich feststellen?


Es ist schwer, die Schweiz mit anderen Ländern zu vergleichen, da es keine allgemein anerkannte Skala für öffentliche Innovation gibt (man kann beispielsweise nicht die Zahl der eingereichten Patente zählen). In der Schweiz ist es dazu besonders schwierig, da uns als föderalistisches Land ein ganzheitlicher Überblick über innovative Initiativen in unseren Behörden auf den verschiedenen Regierungsebenen fehlt.
Davon abgesehen lässt sich aber sagen, dass zahlreiche öffentliche Organisationen in der Schweiz trotz des bürokratischen und rückständigen Bilds, das der Verwaltung anhaftet, wirklich innovativ sind. Es wird eine Vielzahl von innovativen Initiativen hervorgebracht, die wirklichen Mehrwert für den öffentlichen Bereich bieten. Warum sind manche öffentlichen Organisationen innovativer als andere? Wie spielt sich solche Innovation konkret ab? Das sind genau die Fragen, die wir uns in unserer Forschungseinheit stellen.
Es gibt in der Tat zahlreiche schweizerische Besonderheiten in Hinsicht auf die öffentliche Innovation. Die Innovation ist in erster Linie eine Angelegenheit von Menschen und Organisationen. Die Form, die sie annimmt, variiert somit von Kultur zu Kultur und von Institution zu Institution. Analog zum Swiss Way of Management (siehe die Arbeiten von Bergmann, 1994) wäre es möglich, ein ganzes Buch über die schweizerischen Besonderheiten bei der öffentlichen Innovation zu schreiben! Nehmen Sie zum Beispiel die Art und Weise, wie Scheitern in der Arbeitswelt wahrgenommen wird. Für individuelles Scheitern muss man in der Schweiz im Vergleich zu den angelsächsischen Ländern, in denen Scheitern sozial weniger gestraft wird, einen hohen Preis zahlen. Individuelle Risikobereitschaft ist, da sie ein mögliches Scheitern erahnen lässt, in der Schweiz also nur schwierig möglich. Innovation, genau wie Wandel, beruhen aber häufig auf der Bereitschaft, Risiken einzugehen. Diese schweizerische Eigenart kann also Innovation einen Riegel vorschieben. Andere kulturelle Eigenschaften, wie zum Beispiel die Kultur des Kompromisses oder das Verhältnis zur Hierarchie, können ebenfalls als Hebel oder als Bremse für Innovation dienen. Das ist übrigens auch das Thema einer Studie, die wir durchgeführt haben und die bald erscheinen wird.

Können wir davon schon einen kleinen Vorgeschmack kriegen?

Gerne. Die internationale (hauptsächlich amerikanische) Literatur hat eine Reihe sogenannter kultureller Innovationsbremsen identifiziert. Das sind zum Beispiel die Risikoscheu, geringe Offenheit gegenüber dem, was anderswo passiert, kurzfristiges Denken oder die Kultur der Leistung um jeden Preis. Aufgrund der Literatur über die schweizerischen Besonderheiten im Management (die unter anderem die Wichtigkeit des Kompromisses, den Pragmatismus, den Individualismus etc. hervorhebt), haben wir uns gefragt, ob die kulturellen Innovationsbremsen in der Schweiz die gleichen wie anderswo seien. Wir sind also ins Feld gegangen, haben Manager öffentlicher Einrichtungen befragt und die wichtigsten kulturellen Hindernisse, denen diese sich bei ihren verschiedenen Innovationsprojekten ausgesetzt sahen, modelliert. Die Ergebnisse zeigen, dass sich mehrere Bremsen, die ausserhalb der Schweiz beobachtet wurden, sich auch bei uns anfinden. Das ist zum Beispiel der Fall bei der Risikoscheu. Wir haben sich auch zwei neue, „Schweizer“ Innovationsbremsen gefunden: die Wichtigkeit des Kompromisses und die Angst, sich zu sehr in den Vordergrund zu stellen. Die Suche nach Kompromissen bremst Innovation insoweit, als dass ihre Inhalte aufgrund der Zugeständnisse, die den verschiedenen Beteiligten gemacht werden, an Substanz verlieren. Die Angst, sich zu sehr in den Vordergrund zu stellen, bremst Innovation, indem sie dazu führt, dass manche Beteiligten sich zurückhalten und nicht zu Botschaftern für Innovation werden. Diese beiden schweizerischen kulturellen Innovationsbremsen stellen die wichtigsten Erkenntnisse dieses Forschungsprojekts dar. Ergänzend sollte noch eine weitere Studie zu den kulturellen Hebeln für Innovation durchgeführt werden.

In einem Ihrer kürzlich erschienenen Artikel sprechen Sie die Herausforderungen an, die der Entwicklung der Innovationsfähigkeit innerhalb öffentlicher Organisationen innewohnen. Spezifischer sprechen Sie von organisatorischer Beidhändigkeit. Was verstehen Sie darunter?

Ja, die Innovationsfähigkeit von Verwaltungen beruht zu einem grossen Teil auf ihrer organisatorischen Beidhändigkeit. Diese bezeichnet die Fähigkeit von Organisationen, zwei unerlässliche Aktivitäten zu vereinen: die Erzeugung (also den Betrieb) und die Erforschung (also die Akquise und die Innovation). Diese beiden Klassen von Aktivitäten sind schwer zu vereinen, da sie auf fundamental verschiedenen Strukturen, Kulturen und Funktionsweisen beruhen. Effizienter Betrieb beispielsweise erfordert Prozessstandardisierung. Die Erforschung hingegen erfordert eher Improvisation und Autonomie seitens der Angestellten. In diesem typischen Fall stehen die Anforderungen der Erzeugung (mehr Standardisierung) im Widerspruch zu denen der Erforschung. Das Interessante sind die Strategien, die Organisationen anwenden, um diese zwei Systeme zu vereinen: die Beidhändigkeit. Diese organisatorischen Strategien sind mehr oder weniger kontextabhängig und haben alle ihre entsprechenden Vor- und Nachteile. Wenn beispielsweise verschiedene Strukturen für Erzeugung und Erforschung geschaffen werden, stellt die Organisation sicher, dass beide Aktivitäten durchgeführt werden können, riskiert aber, dass nicht ausreichend Zusammenarbeit (oder gar offene Unstimmigkeit) zwischen den Bereichen herrscht.

Wie sehen diese organisatorischen Strategien, beispielsweise bei uns in der Schweiz, konkret aus? Und denken Sie, dass öffentliche Innovationslabore in diesem Kontext eine interessante Lösung darstellen können?

Es scheint, als würde der Grossteil der Schweizer Verwaltungen, die Innovation betreiben wollen, die eben angesprochene strukturelle Beidhändigkeit nutzen, bei der separate Strukturen für Erzeugung und für Erforschung geschaffen werden. Die andere grosse Beidhändigkeitsstrategie, die kontextuelle, versucht, alle Angestellten einer Organisation sowohl in Erzeugung als auch Erforschung einzubinden, ohne spezialisierte Strukturen zu schaffen. Da dies die Schaffung eines Arbeitsumfelds erfordert, das es wirklich ermöglicht, beiden Aktivitäten nachzukommen (also flexible Stellenbeschreibungen, Autonomie für die Angestellten usw.) ist diese Art der Beidhändigkeit nicht sehr weit verbreitet. Die Verwaltungslandschaft der Schweiz besteht heutzutage hauptsächlich aus Organisationen, die nicht beidhändig sind, und aus solchen, die eine strukturelle Beidhändigkeit gewählt haben.
In diesem Kontext können Labs für öffentliche Innovation zwei Haltungen gegenüber der öffentlichen Verwaltung einnehmen: entweder, sie kümmern sich um die Innovationsaktivitäten (was dem Outsourcing der Erforschungsaktivitäten für die öffentlichen Einrichtungen gleichkäme), oder sie helfen von aussen, die Beidhändigkeit in den öffentlichen Einrichtungen zu fördern. Die erste Haltung ist langfristig gefährlich für die Innovation: die öffentlichen Organisationen sollten nicht darauf bauen, dass die Labs die Innovation für sie erledigen, sondern darauf, dass sie ihnen dabei helfen, innovativ zu werden. Auf diese Weise können die Labs wirklichen Mehrwert für den öffentlichen Bereich schaffen.

Was sind Ihrer Ansicht nach die ersten Schritte, die die öffentliche Verwaltung nehmen muss, um ihre interne Innovationsfähigkeit zu steigern?

Es gibt keine Wundermittel, um die Innovationsfähigkeit zu stärken. Der Hauptgrund ist, dass jede Organisation verschieden ist und dass das, was bei der einen Organisation funktioniert, in einem anderen kulturellen Kontext mit anderen Ressourcen, Nutzern und Leitern möglicherweise nicht funktioniert. Ausserdem könnten, selbst wenn allgemeine Hebel für die Stärkung der Innovationsfähigkeit identifiziert würden, nicht alle davon direkt durch das Management genutzt werden. Die Kultur beispielsweise ist tief verankert und verändert sich nur langsam.
Es gibt mehrere Hinweise darauf, dass der erste Schritt für Manager öffentlicher Einrichtungen die Organisation der Arbeit, das Work Design, sein sollte. Mehr Autonomie, flexiblere Stellenbeschreibungen und Freiheit für den Mitarbeiter, Ort und Zeit der Arbeit zu wählen, würden Kreativität und Zusammenarbeit stärken. Das kann man auf jeden Fall bei jenen öffentlichen Organisationen beobachten, die diese auch „New Ways of Working“ genannten Praktiken umgesetzt haben. Meiner Ansicht nach ist es ein erfolgsversprechender Ansatz, zu studieren, wie die Innovationsfähigkeit von öffentlichen Organisationen verbessert werden kann, wenn diese Art des Work Designs genutzt wird. Das lohnt es sich, genau im Auge zu behalten!

Gibt es schon Musterschüler in der Schweiz?

Es gibt bislang nur sehr wenige öffentliche und halböffentliche Organisationen, die ein innovationsfreundliches Work Design umgesetzt haben. Man kann die Universität Lausanne nennen, die Bemühungen in dieser Richtung unternimmt. Das bedeutendste Beispiel ist sicherlich das der Genfer Stadtwerke (Service Industriels de Genève, SIG). Diese haben das Work Design in ihrer Organisation komplett umgekrempelt. Die Angestellten können jetzt nicht nur frei bestimmen, wann sie arbeiten, sondern auch wo: zuhause, im Café, im Zug usw... Die SIG haben auch die Raumaufteilung all ihrer Büros komplett überarbeitet. Es gibt keine Privatbüros mehr – ab jetzt wählt jeder seinen Arbeitsplatz entsprechend seiner Aufgaben (ruhige Ecken für Arbeit, die Konzentration erfordert, Stehtische für kurze Besprechungen usw.) Solche Initiativen sind noch selten, da sie ein seltenes (und bislang wenig verstandenes) Zusammenkommen mehrerer Faktoren erfordern Wir gehen aber davon aus, dass wir im Lauf der nächsten Jahre mehr und mehr solcher Initiativen sehen werden.
 
Owen Boukamel ist Doktorand am Hochschulinstitut für öffentliche Verwaltung (Institut des hautes études en administration publique – IDHEAP), wo er auch forscht. Gegenwärtig geht seine Forschung über die Innovation in der öffentlichen Verwaltung und soll die folgenden Fragen beantworten: was geht in öffentlichen Organisationen vor sich, wenn sie Innovation betreiben – und was, wenn sie dies nicht tun? Was sind die Bremsen und Hebel für Innovation? Wie kann man die Innovationsfähigkeit öffentlicher Organisationen steigern? Diese Fragestellungen bringen in ihn verschiedene Schweizer Kantone, aber auch ins Ausland.