Verständlich sein zahlt sich aus - Wie das Stadtrichteramt Winterthur Sprachbarrieren abbaut und damit Mehreinnahmen erzielt

Ordnerstapel

von Medea Fux

Im März 2020 hat Sylvia Huber die Leitung des Stadtrichteramts in Winterthur übernommen. Seither stellt sie die Bedürfnisse der Einwohner*innen ins Zentrum ihrer Arbeit - mit Erfolg: es werden sehr viel mehr Bussen zeitnah bezahlt und das Amt konnte über 200’000 CHF einsparen. Das staatslabor besuchte Frau Huber in Winterthur. Wir wollten von ihr wissen wie sie ihr Amt in ein ‘Amt zum anfassen’ umgestaltet. 

 

Unbezahlte Bussen sind ein grosses und teures Problem
Das Stadtrichteramt in Winterthur ist eine unabhängige Strafbehörde. Die Leiterin wird vom Stadtrat gewählt. Der Auftrag des Amtes ist es, Bussen bis zu 500 CHF auszufällen und diese auch einzutreiben. Bei nicht erfolgten Zahlungen ist es verantwortlich für den ganzen Prozess bis hin zur Übergabe an den Justizvollzug. Jährlich erlässt das Amt rund 14’000 Verfügungen, verarbeitet 470 Einsprachen und 50 Einvernahmen.


Eine erhebliche Anzahl von zahlungspflichtigen Personen zahlte in der Vergangenheit ihre Bussen aber nicht rechtzeitig. In diesen Fällen folgte eine Betreibung. Bleibt diese erfolglos, wird die Busse in eine Gefängnisstrafe umgewandelt. Diese Konsequenzen sind für die betroffenen Personen unangenehm und bedeuten für das Amt einen erheblichen Mehraufwand. Sylvia Huber wollte dem Problem auf den Grund gehen und entschloss sich kurzerhand, die betroffenen Einwohner*innen anzurufen, um aus erster Hand zu erfahren, warum diese die Bussen nicht bezahlten.

 

Die Bedürfnisse der Einwohner*innen ins Zentrum stellen
Durch diese direkte Nachfrage per Telefon konnte das Stadtrichteramt viele Missverständnisse klären. Die schwer verständliche, juristisch geprägte Sprache der Briefe stellte für viele Empfänger*innen eine unüberwindbare Hürde dar. So erfuhr Huber, dass viele Leute schlicht nicht verstanden weshalb sie eine Busse erhalten hatten oder welche Konsequenzen ihnen bei Nichtbezahlung drohten. 


Das Team um Sylvia Huber setzte darauf Strafbefehle und andere wichtige Dokumente in leichter Sprache neu auf. Anstelle von “Ersatzfreiheitsstrafe” schreibt das Stadtrichteramt nun zum Beispiel allgemein verständlich “Gefängnis”. Neben den rechtlichen Konsequenzen wird auch der Tatbestand in verständlicher Sprache erklärt: so verstehen die gebüssten Personen aus welchem Grund sie bestraft werden und sind damit eher bereit, die Busse zu bezahlen.  


Zusätzlich schreibt das Stadtrichteramt ausdrücklich, dass es telefonisch erreichbar sei, was die Kommunikation erheblich erleichtert. In einem kurzen Telefonat können Missverständnisse rasch geklärt und langwierige Briefwechsel vermieden werden. Auch wird in den Briefen neu explizit und gut sichtbar die Möglichkeit einer Ratenzahlung erwähnt. Eine Erkenntnis aus den Telefongesprächen war, dass einige Nichtzahler*innen zwar zahlungswillig, aber nicht zahlungsfähig waren. Eine Ratenzahlung kommt diesen Personen entgegen und verhindert, dass zahlungsbereite Pesonen sich vor einer Gefängnisstrafe fürchten müssen.

 

Einwohner*innen zuhören beeinflusst auch die interne Dynamik
Auch innerhalb ihres Teams bringt Sylvia Huber neue Arbeitsweisen ein. Nicht nur sie hat aktiv Bürger*innen angerufen, sondern alle Mitarbeitenden waren aufgefordert mit der Bevölkerung in Kontakt zu treten. Zudem unterscheidet sie im Team nicht mehr zwischen administrativem und juristischem Personal. Bei der Umformulierung der Dokumente arbeiteten die Teammitglieder mit verschiedenen Hintergründen effizient zusammen.


Sylvia Huber ist stolz, dass sie auf ein so engagiertes Team zählen kann. Die Übersetzungsarbeit ist extrem aufwändig und anspruchsvoll. Zudem braucht es eine grosse Portion Mut, eine solche Innovation umzusetzen. Mit leicht verständlicher Sprache können die meisten Leute erreicht werden, jedoch verlässt man damit auch das Terrain der juristischen Eindeutigkeit. Sylvia Huber scheint für die Verbindung der beiden “Welten” prädestiniert zu sein. Nach einer KV-Lehre hat sie auf dem zweiten Bildungsweg Jus studiert. Durch ihre Erfahrung in beiden Arbeitswelten, fällt es ihr leicht, verschiedene Perspektiven einzunehmen. Auch ist es ihr ein persönliches Anliegen die juristische Fachwelt der breiten Bevölkerung zugänglich zu machen.


Die Veränderungen im Stadtrichteramt zahlen sich aus. Einerseits finanziell: mehr Bussen wurden bezahlt und dadurch musste das Amt weniger Aufwand pro Busse betreiben. So wurden insgesamt über 200’000 CHF mehr eingenommen. Andererseits ist das Stadtrichteramt auf gutem Weg ein ‘Amt zum anfassen’ zu werden. Die Distanz zu den Einwohner*innen ist kleiner geworden und dies wirkt sich unter anderem positiv auf die Mitarbeitenden aus. Sylvia Huber betont, dass sich äusserst viele Einwohner*innen per Telefon für die Beratung und die Arbeit bedanken. Diese Wertschätzung gab es vorher via Briefkontakt selten bis nie. 

 

Das Stadtrichteramt testet weitere Innovationen und ist offen für grössere Kollaborationen
Die positiven Erfahrungen mit nutzerzentrierter Entwicklung von innovativen Massnahmen machen Lust auf mehr. Das Stadtrichteramt arbeitet bereits jetzt an weiteren Projekten und Ideen. 
Die Übersetzungsarbeit ist noch lange nicht zu Ende und es gibt einige Dokumente, die das Team um Sylvia Huber in der nächsten Zeit neu formuliert. Weiter werden die neuen Dokumente laufend in das IT-System eingepflegt, damit der Prozess noch reibungsloser abläuft. 


Aus Sicht der Einwohner*innen bestehen, neben der Sprache, noch weitere Hürden. Beispielsweise kommt ein Strafbefehl per Einschreiben zu den betroffenen Personen. Um diesen zu erhalten, müssen diese extra zur Post gehen. Die Erfahrungen des Stadtrichteramts zeigen, dass das oft gar nicht passiert, vermutlich da der alltägliche Gang zur Post der Vergangenheit angehört. Aus diesem Grund startet das Amt nun ein Pilotprojekt, in dem es die Briefe per A Post Plus versendet. So landet das Schreiben direkt im Briefkasten und kann trotzdem elektronisch verfolgt werden. 


Langfristig schwebt Sylvia Huber weiter vor, dass der Ablauf eines Strafverfahrens der Übertretungsstrafbehörde für Einwohner*innen ein ganzheitlich nahtloser Prozess ist. Gerne möchte sie in Zukunft zusammen mit der Polizei, dem Betreibungsregisteramt und dem Justizvollzug daran arbeiten die Dokumente der verschiedenen Ämter aufeinander abzustimmen. 


Auch über Winterthur hinaus möchte Sylvia Huber mit anderen Ämtern kooperieren. Hierzu organisiert sie Ende Sommer einen Workshop zu ‘leichter Sprache’. Personen aus verschiedenen Ämtern und Regionen arbeiten am Workshop gemeinsam daran juristische Sprache so umzuformulieren, dass sie leichter verständlich ist. Personen und Ämter mit Interesse am Workshop oder einer allgemeinen Zusammenarbeit können sich gerne direkt bei Sylvia Huber melden. 


Wir als staatslabor wünschen viel Erfolg bei der weiteren Umsetzung und freuen uns auf weitere inspirierende Innovationen!

 

 

Weiterführende Links und Quellen: