Der Beteiligungs-Spider: Sieben Schweizer Partizipations-Projekte im Vergleich

Bürger

Bürgerbeteiligung liegt im Trend, so etwa bei den diversen Smart City-Vorhaben, die sich gerade landesweit verbreiten. Dabei sind die einzelnen Beteiligungsprojekte sehr unterschiedlich gelagert. Wir haben deshalb eine Einordnung der spannendsten Projekte der Schweiz vorgenommen und stellen sieben partizipative Initiativen vor. Wir vergleichen sie mit einem einfachen Analysetool, dem Beteiligungs-Spider. Wir verstehen das Tool als Prototyp und Diskussionsbeitrag und freuen uns über Feedback dazu.

Bürgerbeteiligung entspricht dem Zeitgeist. Die Bemühungen, BürgerInnen stärker in den politischen Prozess mit einzubeziehen, sind dank digitalen Plattformen technisch längst möglich geworden und werden ausgiebig getestet. Dabei sind die einzelnen Beteiligungsprojekte sehr unterschiedlich gelagert. Sie tun nicht dasselbe, und sie wollen verschiedene Ziele erreichen.

Wir fanden deshalb, dass es an der Zeit ist, einen besseren Überblick über verschiedene partizipative Vorhaben zu gewinnen und haben den Prototyp eines Beteiligungs-Spiders entwickelt - eine einfache Methode, um Partizipationsprojekte einzuordnen und zu vergleichen.

In diesem Beitrag stellen wir unsere Überlegungen vor und testen den Spider mit sieben Schweizer Fallbeispielen. Wir präsentieren, welche partizipativen Projekte aus der Schweiz wir untersucht haben und stellen acht Kriterien vor (“Achsen”), die wir zur Einordnung der Projekte entwickelt haben. Schliesslich analysieren wir die Resultate.

 

Die Skizze des Beteiligungs-Spiders nach der ersten Prototyping-Session.

Sieben Fallbeispiele aus der Schweiz

  • WeCollect, Daniel Graf und Donat Kaufmann in Zusammenarbeit mit der Webagentur Liip

WeCollect ist eine unabhängige Non-Profit-Plattform, welche es ermöglicht, digital Unterschriften für Volksinitiativen und Referenden zu sammeln.  

Petitio.ch ist eine Plattform für lokale Anliegen, welche die Gemeinden der Kantone Aargau, Solothurn, Basel-Stadt, Basel-Land und die Gemeinden im Limmattal betreffen.

Nextzürich ist eine Ideenplattform, auf welchen die eigenen Ideen und Visionen zur Entwicklung der Stadt Zürich geteilt, diskutiert und weiterentwickelt werden können.

  • Engage.ch, Dachverband Schweizer Jugendparlamente DSJ

Die Onlineplattform engage.ch bietet jungen Menschen eine Möglichkeit, ihre Anliegen, Ideen und Fragen in die politischen Planungs- und Entscheidungsprozesse einzubringen und sich mit anderen darüber auszutauschen.

Die Policy Kitchen basiert auf einer digitalen Innovationsplattform und physischen Workshops, so genannten Policy Cooking Days. Das Ziel ist die Entwicklung konkreter Lösungsansätze für aussenpolitische Herausforderungen.

Das Wunsch-Schloss ist ein Ideenwettbewerb für Bürgerideen. Jedes Jahr können zu einem bestimmten Thema Ideen eingereicht werden. Der Gewinn ist ein Treffen mit den GeneralsekretärInnen aller grossen Parteien und ein All-Around-the-World-Ticket.

Für die Totalrevision der Walliser Verfassung wurde ein 130-köpfiger Verfassungsrat aufgestellt. Der Appel Citoyen ist eine überparteiliche Bürgervereinigung, die sich für die Verfassungsratswahlen gebildet hat und am 25. November 16 Sitze gewinnen konnte.
 

Die Auswahl der sieben Projekte erfolgte in einer ersten Recherche-Runde und erhebt keinesfalls den Anspruch auf Vollständigkeit. Habt ihr Hinweise auf weitere Projekte, die wir in unsere Analyse aufnehmen können? Kontaktiert uns: hello@staatslabor.ch.

 

Der Beteiligungs-Spider: Acht Achsen der Partizipation

Spider

Der Beteiligungs-Spider mit den acht Achsen zur Einordnung der Projekte. Farbig ersichtlich sind die verschiedenen ausgewählten Beispiele aus der Schweiz (Spider für einzelne Projekte und Datengrundlage: PDF 238 KB).

 

Jedes der sieben Projekte wurde anhand der folgenden Achsen im Spider angeordnet:

  • Transparenz des Prozesses

Inwiefern können Nicht-Partizipierende den partizipativen Prozess mitverfolgen und wie viele Infos des Projektes und in welcher Form dringen nach aussen? Der Wert 10 bedeutet in diesem Fall ein sehr hohe Transparenz, der Wert 1 eine sehr geringe.

  • Argumentationsmöglichkeit

Können die Partizipierenden nur ihre Zustimmung oder Ablehnung mitteilen, oder ist eine Erklärung und Ausführung der eigenen Argumente und die Entstehung einer Diskussion möglich. Der Wert 10 heisst, dass die Partizipierenden eine breite Argumentations- oder auch Deliberationsmöglichkeit haben und nicht nur Ja oder Nein stimmen können.

  • Zugänglichkeit für Beteiligte

Hier geht es um die User Experience. Ist die Beteiligung übersichtlich gestaltet, versteht man schnell, worum es geht und kann man sich einfach einbringen? Können auch Menschen ohne Vorwissen die Benutzung nachvollziehen oder ist die Bedienung eher komplex? Erfährt man leicht von Möglichkeiten, um sich einzubringen? Ein hoher Wert drückt eine hohe Zugänglichkeit und damit einen geringen Schwierigkeitsgrad aus.

  • Inklusivität

Die Inklusivität spricht die Zielgruppe an. Am inklusivsten sind Projekte, welche die ganze Bevölkerung ansprechen, einen tiefen inhaltlichen Schwierigkeitgrad haben und an welchen jede Person teilnehmen darf. Etwas weniger inklusiv sind Projekte, in welchen Arbeitsgruppen gebildet und Workshops durchgeführt werden. Hier müssen die Beteiligten einen zusätzlichen Schritt machen, viel Zeit aufwenden und allenfalls Vorwissen besitzen. Weniger inklusiv sind zudem Projekte, welche nur eine bestimmte Betroffenengruppe (junge Menschen, Menschen mit Behinderung etc.)  anvisieren und damit nur ein ausgewählter Teil der Bevölkerung mitmachen kann. Ganz exklusive Projekte stellen Expertenrunden dar. Ein hoher Wert bedeutet hohe Inklusivität.

  • Einflussebene

Die Einflussebene betrifft die Stufe, auf welcher die Partizipation abzielt. Kann mit der Partizipation die Verfassung verändert werden oder geht es um ein Stadtentwicklungskonzept? Je höher die Ebene, desto höher ist der Wert auf der Achse.

  • Digital/Online-Grad

Die partizipativen Projekte können gänzlich online auf einer digitalen Plattform stattfinden. Eine andere Möglichkeit ist, die Vorstellung des partizipativen Projektes/der partizipativen Projekte und die Einschreibung online vorzunehmen, die Umsetzung des Projekts jedoch offline zu gestalten. Andere partizipativen Projekte sind ausschliesslich offline. Ein hoher Wert auf der Achse stellt einen hohen Online-Grad dar.

  • Medienaufmerksamkeit

Ein hoher Wert auf der Achse lässt darauf hindeuten, dass das Projekt oder das Vorhaben auf der Plattform sehr medienwirksam ist und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zieht. Ein geringer Wert wiederum beschreibt ein Projekt oder Vorhaben auf der Plattform abseits des öffentlichen Interesses. 

  • Formale Entscheidungsfähigkeit

Viele partizipative Projekte setzen auf neue Ideen und Kommentare der BürgerInnen. Dabei haben die BürgerInnen jedoch keine formale Entscheidungsmacht. Das unterscheidet die Projekte von anderen, welche den BürgerInnen die Möglichkeit geben, abschliessend zu entscheiden, ob  und wie eine Massnahme umgesetzt wird. Je höher diese Entscheidungsfähigkeit ist, desto höher ist auch der Wert auf der Achse.

 

Die Analyse 1: Zwei Projekte im direkten Vergleich - WeCollect und engage.ch 

 

Beide Initiativen sind digital und haben einen hohen Wert auf der Achse “Einflussebene”, da bei WeCollect Unterschriften für Volksinitiativen und Referenden gesammelt werden können und engage.ch jungen Menschen die Möglichkeit bietet, mit ihren Anliegen direkt an die jüngsten National- und StänderätInnen zu gelangen.  

Unterschiede weisen die beiden Initiativen beispielsweise im Bereich Argumentationsmöglichkeiten, Inklusivität und formale Entscheidungsfähigkeit auf. Auf WeCollect können die Beteiligten ihre Unterschrift abgeben, im Gegensatz zu engage.ch ist es jedoch nicht möglich, Argumente vorzubringen. Weiter steht WeCollect allen Menschen offen und hat deshalb einen hohen Wert auf der Inklusivitäts-Achse, während sich engage.ch explizit an junge Menschen richtet. Auf WeCollect entsteht bei genügend Unterschriften eine Volksinitiative oder ein Referendum, was eine hohe formale Entscheidungsfähigkeit bedeutet. Engage.ch ist eine Ideenplattform, Möglichkeiten formal mitzuentscheiden sind sehr beschränkt. 

 

Die Analyse 2: Drei Kategorien von Partizipationsprojekten

Für die Schweizer Landschaft von partizipativen Projekten machen wir drei grundsätzliche Kategorien aus:

WeCollect, und gewissermassen auch petitio.ch, sind Versuche, die Schweizerische Demokratie zu digitalisieren. Sie nehmen bestehende politische Rechte wie das Initiativ- oder Referendumsrecht bzw. das Petitionsrecht und bringen es in die digitale Sphäre. Sie verstehen sich als einzelne Elemente, die, vergleichbar mit dem eVoting, das bestehende System um neue Kanäle ergänzen.

Bei diesen Initiativen besteht das Ziel in erster Linie darin, Ideen von BürgerInnen zu sammeln. Diese Ideen oder Vorschläge können dann an politische Akteure weitergegeben werden. Es ist aber kein verbindlicher institutioneller Prozess zur Implementation vorgesehen.

Immer mehr Organisationen wie Parteien, NGO oder Verbände etablieren interne partizipative Prozesse, um Mitglieder oder SympathisantInnen besser einzubinden. Dazu nutzen sie auch vermehrt digitale Tools - beispielsweise für Vorwahlen.

 

Diese drei Kategorien sind nicht immer trennscharf. Trotzdem glauben wir, dass es hilfreich ist, eine Unterscheidung zwischen diesen Kategorien vorzunehmen. Partizipation innerhalb einer Organisation ist nicht dasselbe wie ein Crowdsourcing. Ein Crowdsourcing kann zwar viele Menschen nach ihren Wünschen befragen, aber es hat keinen verpflichtenden Charakter. Und Elemente der digitalen Demokratie fördern nicht unbedingt den Austausch. 

Der Vergleich sehr verschiedener Projekte gestaltet sich nicht ganz einfach. So sind unter den ausgewählten Projekten langfristig ausgelegte Online-Plattformen mit einem breiten Beteiligungsangebot und verschiedenen Einflussebenen, punktuelle partizipative Projekte im online- und offline-Bereich und reine Ideenplattformen. Kommunikationsplattformen wie 2324.ch, Smartvote und Vimentis wurden hier indes nicht berücksichtigt und wären wohl schwierig in dieses Schema einzuordnen, da sie sich auf einer anderen Ebene bewegen und eher ergänzend und unterstützend für die Demokratie wirken.  

Dazu kommt ein für die Schweiz relativ neues Phänomen, das wir noch nicht im Spider aufgeführt haben, aber eigentlich eine neue Kategorie darstellt: Demokratie-Plattformen. Dazu gehört etwa die CivicTech Plattform der Stadt Zürich. Das Postulat im Gemeinderat der Stadt Zürich fordert die Einführung digitaler Plattformen zur BürgerInnenbeteiligung, über die sich Bürgerinnen und Bürger stärker einbringen können. Insbesondere im lokalen oder städtischen Kontext sind solche Demokratie-Plattformen interessant, weil sie den BürgerInnen einen unkomplizierten Zugang zur Verwaltung oder auch zur Legislative bieten. Ziel ist, dass die Beteiligung der BürgerInnen über einen einzigen Zugang funktioniert.

In diesem Sinne sind unsere Kategorien natürlich dynamisch angelegt. Plattformen wie die von Next Zürich können schnell vom reinen Crowdsourcing zu einer Demokratie-Plattform werden, wenn sie die entsprechenden institutionelle Anbindung erhalten.

 

Fazit

Wir sprechen zuweilen sehr generell über Partizipation und neigen dazu, die verschiedenen Partizipationsmöglichkeiten nicht zu unterscheiden. Um jedoch eine geeignete Partizipationsform für die gegebenen Umstände und Ziele zu finden, ist es wichtig, einen Überblick über die verschiedenen Möglichkeiten zu haben - und Projekte zu kennen, wo diese Möglichkeiten bereits in der Praxis getestet werden.

Der “Beteiligungs-Spider” bietet für EntscheidungsträgerInnen, die über neue Instrumente der Bürgerbeteiligung nachdenken, ein Instrument, um genau diese Unterscheidung vornehmen zu können und sich bewusst zu werden, was Partizipation in den verschiedenen Fällen bedeuten kann. Darauf basierend können sie eine fundierte Entscheidung treffen. Der Begriff Partizipation bleibt eine leere Hülle, solange wir sie nicht wirkungsvoll gestalten. Dessen sollten wir uns bewusst sein, wenn wir über Partizipation sprechen. 

Habt ihr Anmerkungen und Fragen zum Spider oder Hinweise zu weiteren Projekten? Wir freuen uns auf eure Inputs: hello@staatslabor.ch.