Recycling neu denken: Was wir aus dem Berner Farbsack-Experiment lernen

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In den letzten Monaten begleiteten wir Entsorgung + Recycling Stadt Bern (ERB) bei der Evaluation des Pilotprojekts “Farbsack-Trennsystem”. Wir trafen BernerInnen zu Hause und in der Stadt und sprachen mit ihnen über ihr Recyclingverhalten. Dabei haben wir drei Erkenntnisse über die nutzerzentrierte Entwicklung von Service Public Angeboten gewonnen. Welche das sind, erläutern wir hier.
 

Die Stadt Bern testet ein neues Recycling-Konzept. Anstatt Wertstoffe wie gewohnt zur Sammelstelle zu bringen, können sich BürgerInnen direkt zu Hause an die Trennung der Abfälle machen und diese gleich vor der Haustür entsorgen - und zwar in neuen Farbsäcken: PET gehört in den roten Sack, Alu in den grauen, Glas in den violetten, Kunststoff in den gelben und Papier in den braunen.

Seit September 2018 haben rund 2’500 Berner Haushalte die Gelegenheit, diese Farbsäcke zu testen. Die Haushalte sind Teilnehmer des Pilotversuchs “Farbsack-Trennsystem” von Entsorgung + Recycling der Stadt Bern (ERB). Die Bundesstadt will mit dem neuen System die städtischen Quartierentsorgungsstellen entlasten. Diese sind Opfer ihres eigenen Erfolgs geworden und stossen an ihre Kapazitätsgrenzen: Besonders an Wochenenden werden sie zu rege genutzt. Lärmemissionen und die Kumulierung nicht gerader angenehmer Düfte können für die Anwohner unangenehme Folgen haben.

Das staatslabor hat ERB nun in der Schlussphase des Pilotversuchs begleitet, um Feedbacks der BernerInnen einzuholen und von ihnen aussagekräftige Hinweise für eine allfällige stadtweite Einführung zu erhalten. Aus dieser Zusammenarbeit nehmen wir drei Erkenntnisse mit, was die nutzerzentrierte Entwicklung von Service Public Angeboten betrifft. Im Folgenden stellen wir diese Erkenntnisse vor.

 

1. Zu den Leuten gehen, um die Nutzung von Angeboten im Alltag zu verstehen

Um Feedbacks auf neue Angebote zu erhalten, setzen viele Verwaltungen auf Umfragen: Man schickt eine Reihe von schriftlichen Fragen an die NutzerInnen und hofft auf guten Rücklauf. Das kann für erste Stimmungsbilder ganz praktisch sein. Umfragen sind aber nur beschränkt nützlich, wenn ein tieferes Verständnis von alltäglichen Nutzungsmustern gefragt ist. 

Denn die Nutzung neuer Angebote ist immer in einen Alltag eingebettet, in dem viele Faktoren das Verhalten beeinflussen. Werte, Interaktionen mit Freunden und der Familie, das Portemonnaie, situative Anreize, Spass, Bequemlichkeit und so weiter bestimmen, wie wir auf neue Angebote reagieren. Aktuelle verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse empfehlen daher eindringlich, “zu den Leuten” zu gehen, um diese Zusammenhänge richtig zu verstehen. 

Entsprechende Methoden sind im Produktdesign als Nutzerzentrierung, im Marketing als User Journey und in den Sozialwissenschaften als Ethnographie bekannt. Diese Vorgehensweisen bringen beträchtlichen Aufwand pro Fall mit sich, benötigen aber keine grossen Fallzahlen, um aussagekräftige Informationen zu generieren. 

Um das Abfall- und Recyclingverhalten im Alltag besser zu verstehen, haben sich in der Zusammenarbeit mit ERB für uns zwei Dinge besonders bewährt: Erstens eine Reihe von Telefongesprächen, um die vorgängig durchgeführten schriftlichen Befragungen zu vertiefen, und zweitens persönliche Interviews mit kritischen Teilnehmenden, um mit ihnen über ihre Nutzung der Farbsäcke und ihr Recyclingverhalten zu sprechen (siehe Bild).

Interview

 

2. Die Leute als BürgerInnen ansprechen, nicht nur als NutzerInnen

Dass ein nutzerzentriertes Vorgehen bei neuen Angeboten auch im Service Public Sinn macht, ist keine brandneue Erkenntnis mehr. Sie ist in den letzten Jahren aus der Produkt- und Web-Entwicklung in die öffentliche Innovationspraxis vieler Verwaltungen gewandert.

Unsere Farbsack-Nutzungs-Journeys weisen aber auf einen Punkt hin, auf den gerade der Staat besonders Wert legen sollte. Die Beurteilung des neuen Recycling-Systems hängt nicht nur davon ab, wie bequem und einfach dessen Benutzung ist: Es geht den Leuten immer auch um ihre Werte und ihre ganz eigenen Lebensentwürfe. Dies bedeutet in vorliegendem Fall zum Beispiel, sich als sinnvollen Teil eines Ganzen - der Stadt Bern oder der “hiesigen Recyclingkultur” - zu sehen. 

  • So gab es den älteren Herrn, der selber die Farbsäcke nicht braucht, weil er beim täglichen Einkauf auch gleich seine Wertstoffe fachgerecht entsorgt und sich niemals ein Recycling-Lager in der Wohnung anlegen würde. Gleichzeitig würde er aber einer stadtweiten Einführung zustimmen, weil er versteht, dass einige Quartiersammelstellen zu laut und zu voll sind.
  • Es gab die jüngere Dame, die die Farbsäcke zu kompliziert findet, aber versteht, dass die Umstellung des Recycling- und Entsorgungssystems auf ein Containermodell gesundheitsschonend wäre, weil die Müllmänner und -frauen auf ihren Runden heute jeden Kehrichtsack von Hand aufheben und in den Wagen werfen müssen.
  • Und es gab die Jungs-WG, welche das System trotz einiger Schwachpunkte minutiös umsetzt und in ihren Ämterplan eingearbeitet hat (siehe Bild) - und das nicht aus ökologischen Gründen, sondern weil man ordnungsgemässes Recyclen schliesslich schon von Kindsbeinen an gelernt hat. Es gehört sozusagen zum Habitus von verantwortungsvollen BürgerInnen.
Farbsack in action2

Die drei Beispiele zeigen, dass NutzerInnen in der Lage sind, komplex zu denken und bei Zielkonflikten zwischen der eigenen bequemen User Experience und übergreifenden Werten abzuwägen. Für eine Verwaltung heisst das: Man darf die Menschen bei neuen Angeboten ruhig auch mit gesellschaftlichen Argumenten ansprechen und muss die Kommunikation nicht auf den individuellen Nutzen verengen. Das könnte sogar kontraproduktiv sein: Botschaften “von oben” zur vermeintlichen Nutzerfreundlichkeit eines neuen Angebots, die sich nicht mit dem eigenen Alltagserlebnis decken, können schnell Abwehrreaktionen hervorrufen.


3. Experimentierräume machen den Service Public lebensnah, brauchen aber ein gutes Erwartungsmanagement

Menschen schätzen es, bei Themen, die sie betreffen, mit einbezogen zu werden. Nicht umsonst spricht man im nutzerzentrierten Design von der Entwicklung “mit”, nicht “für” die Bürgerin. Der experimentelle Ansatz des Farbsack-Projekts kam bei den teilnehmenden Haushalten denn auch durchgehend sehr gut an. Sowohl Anhänger als auch Gegner des neuen Systems zeigten sich positiv überrascht, Teil einer Versuchsanlage zu sein und zu spüren, dass die Stadt sie ernst nimmt.

Dafür war zentral, dass die Feedbacks der BernerInnen bereits früh konkrete Anpassungen im Angebot nach sich zogen, etwa bei der stabileren Ausgestaltung der Säcke für Papier. Auch die regelmässige Kommunikation von Entsorgung + Recycling Stadt Bern (ERB), die etwa auf Unsicherheiten hinwies und das Versuchsvorgehen offen beschrieb, wurde durchweg gelobt. Das zeigt: Die Beteiligung der BürgerInnen an der Gestaltung der Angebote, die sie selber nutzen, bringt öffentliche Dienste näher an den gelebten Alltag. Bedingung dafür ist, dass es im Projektverlauf Freiheitsgrade gibt, um Meinungen und Inputs der Leute tatsächlich zu berücksichtigen. Das hat das Recycling-Pilotprojekt “Farbsack-Trennsystem” für die befragten Personen gut gelöst. 

Oft planen Verwaltungsprojekte diese Freiheitsgrade aber eben gerade nicht von Beginn weg mit ein. Aus unserer Erfahrung sind die Gründe dafür vielfältig und reichen von einer eher innengerichteten Organisationskultur bis zur Herausforderung, resultatoffene Projekte durch den Budgetierungsprozess zu bringen. Die schlechtestmögliche Kombination ist, Menschen in einen partizipativen Prozess einzubinden und die Resultate dann in der Schublade verschwinden zu lassen. Das beschädigt das Vertrauen der BürgerInnen in den Staat.

Beteiligungsformate, egal wie formell oder informell diese sind, brauchen deshalb im Minimum ein gutes Erwartungsmanagement: “Wieso beziehen wir Sie ein? Was passiert danach?”. Im Optimum öffnen Experimente wie der Farbsack neue Kanäle. So kam in einem der Gespräche die Idee auf, dass Verwaltungen die Leute als “Citizen Consultants” oder “Bürgerberatungen” regelmässig in ihre Büros holen könnte. Warum nicht? Solche Formate könnten dazu dienen, eine Kultur der Augenhöhe zwischen BürgerInnen und Staat zu etablieren - und eine positive Dynamik auszulösen, die weit über die Versuchsanlage hinaus wirkt.