«Glücklich ist, wem der Beruf zur Berufung wird»

Koller

Prof. Dr. Heinrich Koller war fast zwanzig Jahre lang Direktor des Bundesamtes für Justiz. Während seines Dienstes als Amtsdirektor hat er prägende Reformen begleiten dürfen und knifflige Situationen handhaben müssen. Zur Bewältigung von Krisen rät der Jurist, erprobte Methoden und Erfahrungen anzuwenden, auf das Wissen und das Vertrauen der Mitarbeitenden zu setzen und nicht voreilig zu urteilen. Mit Blick auf die langfristigen Folgen der Corona-Epidemie hofft er, dass Vorsorge und Schutz der Schwachen ebenso wie der wirtschaftliche Erfolg im Auge behalten werden.

 

Erfahrungen mit Krisensituationen

«Die Einsicht: Gehe ehrlich und verantwortungsbewusst deinen Weg und du wirst getragen!»

Haben Sie in Ihrem Berufsleben ausgeprägte Krisen erlebt?

Während meiner Zeit als Rechtskonsulent in der chemischen Industrie war ich kaum mit Krisen konfrontiert. Als Direktor des Bundesamtes für Justiz habe ich hingegen wiederholt politische Krisen durchlebt. Ein erstes eindrückliches Ereignis war der erzwungene Rücktritt von Frau Bundesrätin Kopp, ganz zu Beginn meiner Karriere in Bern. Ich kannte damals noch kaum jemanden in der Verwaltung, war mit dem politischen Umfeld nicht vertraut und wurde – wie das ganze Umfeld von Frau Kopp – von einem Tag auf den andern in diesen Strudel hineingezogen. Nach zehn nüchternen Jahren in der Industrie war dieses Umfeld mit den Verdächtigungen, den Anschuldigungen und dem Medienrummel für mich neu. Ich empfand diese Zeit als sehr belastend, weil dadurch die Arbeit zu leiden drohte. Eine ähnliche Situation – wenn auch weniger dramatisch – erlebte ich ein Dutzend Jahre später bei der Abwahl von Frau Bundesrätin Metzler.

«Meine Taktik: In sich gehen, berechtigte Kritik annehmen, nach vorne schauen!»

Wie haben diese Krisen Sie geprägt? Haben Sie neue Massnahmen für die Zukunft getroffen?

Ich befolgte bei diesen Krisen unbewusst die benediktinische Regel: gehe deinen Weg und du wirst getragen! Wenn man sich selbst treu bleibt, offen und ehrlich kommuniziert, den Mitarbeitenden Vertrauen schenkt und auf Kritik eingeht, dann wird man auch gestützt. Ich hatte das grosse Glück, dass die Mitarbeitenden in der Bundesverwaltung rasch Vertrauen fassten und sich loyal verhielten bzw. verhalten, wenn man glaubwürdig seinen Standpunkt vertritt und ihnen die verdiente Wertschätzung zukommen lässt.

Was unterschätzen Aussenstehende in Bezug auf das Führen eines Teams während solchen Krisen?

Vorverurteilungen erschweren die Arbeit enorm und sie fügen viel Leid zu. Sie lenken von der Arbeit ab und stören die Bewältigung der Probleme. Vor allem die Medien und publikumssüchtige Verantwortungsträger (einschliesslich der Parlamentarier) sollten sich den juristischen Grundsatz des «audiatur et altera pars» (man höre die Beschuldigten an) stets vor Augen halten. Bevor man urteilt, sollte man den Problemen auf den Grund gehen, die Gegenseite anhören und dann Schlüsse ziehen. Verdächtigungen, Vermutungen, Anschuldigungen stören das Vertrauensverhältnis und erschweren die Aufarbeitung. Wichtig ist auch, offen zu sein für Kritik, sich immer wieder einmal zurückzunehmen und Fehler einzugestehen. Man muss aber auch den Mut haben, rechtzeitig allfällige Störfaktoren zu eliminieren und unpopuläre Massnahmen zu treffen. Unsachliche Kritik muss man wegstecken.

Gab es in solchen Situationen konkrete Dinge im Tagesablauf, die Ihnen geholfen ha-ben, einen klaren Kopf zu bewahren?

Ja, ruhig werden, in sich gehen und nach vorne schauen. Wenn ich ab und zu Kritik einstecken musste, von welcher Seite auch immer, habe ich mich danach immer dem nächsten Problem bzw. Tag zugewandt. Ich war fasziniert von meiner Arbeit. Der Beruf in Bern ist mir tatsächlich über die Jahre zur echten Berufung geworden. Auch die grosse Loyalität, die ich im Amt spürte, war mir eine wichtige Stütze. Wenn ich verärgert ins Büro kam und die Mitarbeitenden mir ein Projekt für den nächsten oder übernächsten Tag vorlegten, dann konnte und durfte ich nicht zurückschauen.

«Als Direktor eines grossen Amtes sind Sie nie der beste Solist, viel eher der Dirigent des Orchesters»

Als Direktor des Bundesamts für Justiz führten Sie ein grosses Team. Welche Führungsprinzipien sind in schwierigen Momenten besonders wichtig?

Da ich als Jurist nicht alles wissen konnte, habe ich jeweils die zuständigen Sachbearbeiter zu mir an den Tisch gerufen, mich auf ihr Wissen gestützt und versucht, alle Betroffenen in meine Entscheide einzubeziehen. Als Direktor eines so grossen Amts wie des Bundesamtes für Justiz, das in allen Rechtsbereichen kundig sein muss, ist man selten der beste Spezialist. Oder um es bildlich auszudrücken: man ist in diesem Orchester selten der auserwählte Solist, sondern vielmehr der Dirigent, der das Ganze zusammenhält und harmonisch zum Klingen bringt. Anders ausgedrückt, musste ich den Solisten gelegentlich klarmachen, dass ihre Spielweise mit den anderen Instrumenten im Einklang zu sein hat.

Sie haben unter vier verschiedenen Bundesrätinnen und Bundesräten gedient: Wie haben Sie deren Führungsstile erlebt?

Ich bin mit allen gut ausgekommen und habe die unterschiedlichen Führungsstile (zwangsläufig) akzeptieren müssen. Vor allem aber habe ich geschätzt, dass mir die Departementsvorsteher erlaubt haben, zwanzig Jahre lang in einem Umfeld zu arbeiten, das letztlich sehr erfüllend war. Auch wenn es einem Mitarbeiter nicht gut ansteht, seine Vorgesetzten nach Jahren der vertrauensvollen Zusammenarbeit zu beurteilen, ist es interessant, die unterschiedlichen Führungsstile miteinander zu vergleichen, z.B. nach der Intensität des Einbezugs der Mitarbeitenden oder zwischen eher autoritären und kooperativen Tendenzen. Zu bemerken ist dazu, dass die Aussenwirkung der Departementsvorsteher nicht immer deckungsgleich war mit dem Verhalten im Innenverhältnis.

Wie sind Sie in politisch kniffligen Momenten vorgegangen? Etwa als es um die Umsetzung der Verwahrungsinitiative ging?

Meine Aufgabe als Jurist war es, den Rechtsstandpunkt zu vertreten, nicht Politik zu betreiben. Wir haben deshalb in der Arbeitsgruppe "lege artis" zu arbeiten versucht. Einen Verfassungstext muss man, ausgehend von seinem Wortlaut auslegen. Sodann ist nach dem Zweck der Bestimmung (nicht allein der Absicht der Initianten) zu fragen, der historische Hintergrund auszuleuchten und die neue Bestimmung mit der übrigen Verfassungsordnung in Übereinstimmung zu bringen. Bei der Umsetzung der Verwahrungsinitiative wie auch der Ausschaffungsinitiative haben wir am Text Abstriche machen müssen, um mit der schweizerischen Rechtsordnung und dem übergeordneten Völkerrecht im Einklang zu sein. Dabei mussten wir der Politik klar machen, weshalb das eine oder andere Anliegen nicht berücksichtigt werden konnte. Um die Einheitlichkeit der Rechtsordnung nicht zu gefährden, entschieden wir uns im Zweifelsfall für das übergeordnete Recht.

 

Totalrevision der Bundesverfassung

«Das Momentum war entscheidend. Die Ausgewogenheit half mit.»

Apropos übergeordnetes Recht: Sie waren massgeblich an der Totalrevision der Bundesverfassung beteiligt. Wie war es möglich, einen Konsens zur Überarbeitung des wichtigsten politischen und rechtlichen Dokuments des Landes zu schaffen?

Bundesrat Koller hat geschickt den richtigen Zeitpunkt abzuwarten gewusst; denn ohne das entscheidende Momentum lässt sich eine solche Revision nicht verwirklichen. In den 1960er-, 70er- und 80er-Jahren waren bereits viele wichtige, wenn auch erfolglose Vorarbeiten unternommen worden – etwa im Rahmen der Kommission Wahlen oder Expertenkommission Furgler. Das “Nein” zum EWR im Dezember 1992 löste dann eine Bewegung: Wenn schon keine Öffnung nach aussen, dann wenigstens Reformen im Innern! Diese Bewegung gab dem Vorhaben der Totalrevision Aufschub.

Wie sind Sie bei der Erarbeitung des neuen Verfassungstextes konkret vorgegangen?

Das Parlament hatte 1987 dem Bundesrat den Auftrag erteilt, eine Totalrevision vorzubereiten und dabei das geltende Recht «nachzuführen», es also verständlich und geordnet darzustellen und in der Sprache zu vereinheitlichen. Es galt also vorerst das geltende Recht aufzuarbeiten und neu zu formulieren. Nur liessen sich damit noch keine echten Reformen verwirklichen. Der Bundesrat erachtete es deshalb als angezeigt, die Nachführung mit materiellen Reformen zu verbinden. Dieses Konzept ermöglichte ein schrittweises Vorgehen und besänftigte sowohl die Bewahrer als auch die Reformer. Das war für den Erfolg des Vorhabens ebenso bedeutsam wie eine kluge Projektorganisation mit dem Einbezug der Verwaltung, der Wissenschaft, der Kantone – und immer wieder auch des Bundesrates.

Welche Funktion kam Ihnen persönlich im Prozess zu?

Meine Aufgabe war es, mit dem Bundesamt einen wissenschaftlich fundierten und politisch ausgewogenen Entwurf vorzulegen. Ich habe damals zusammen mit meinem persönlichen Mitarbeiter Giovanni Biaggini (jetzt Professor in Zürich) nächtelang Texte überarbeitet, die uns von den verschiedenen Arbeitsgruppen im Amt geliefert wurden. So entstand in der Zusammenarbeit mit dem Amt, dem Departementsvorsteher und dem Beirat ein kohärenter, breit abgestützt Verfassungsentwurf, der im Parlament und in der Öffentlichkeit gut aufgenommen wurde.

 

Folgen der Corona-Krise für die Justiz

«Die Krise wird der e-justice Auftrieb geben und zu Anpassungen in den Gesschäftsreglementen führen»

Wie verändert die Corona-Krise die Justiz?

Bei der Justiz im engeren Sinn, also den Gerichten, wird die Corona-Pandemie vermutlich einen Schub in Richtung e-justice, also in Richtung Digitalisierung des Gerichtswesens, auslösen. Es kann nicht sein, dass unsere Justiz stillsteht, nur weil bei gewissen Vorgehensschritten physische Präsenz oder partout Schriftform erforderlich ist. Es lässt sich vieles auch auf digitalem Weg erledigen.

Wird die Rechtsprechung den besonderen Umständen der Krise Rechnung tragen?

Ich hoffe, dass bei den Gerichtspersonen das Bewusstsein gewachsen ist, dass die Anwendung und Durchsetzung des geltenden Rechts in Krisenzeiten zu höchst ungerechten Resultaten führen kann. Dies wäre zum Beispiel der Fall, wenn jemand, der über kein Einkommen mehr verfügt, trotzdem fristgemäss sein Mieten, Löhne und Zinsen entrichten müsste. Gefordert ist dabei aber vorab der Gesetzgeber. Dieser hatte in Eile unter möglichster Wahrung der Kompetenzordnung die erforderlichen Massnahmen zu treffen. Ich bin echt stolz, wie Bundesrat und Parlament bislang die Krise bewältigt haben. Sie haben im Rahmen der Verfassungsordnung etwa Anpassungen am Schuldbetreibungs- und Konkursrecht sowie am Mietrecht vorgenommen, haben Kredite gesprochen und Stundungen ermöglicht. Nun wird es darum gehen, diese in der Not geborene Rechtsordnung kritisch zu hinterfragen und daraus für die Zukunft die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Es wird Aufgabe des Justizdepartementes sein, diese Analyse vorzunehmen und allfällige Anpassungen der Verfassungsordnung vorzuschlagen.

«Wir sind uns bewusst geworden, dass unsere Gesellschaft verwundbar ist»

Was halten Sie von der Kritik, dass der Bundesrat zu lange zu viele Kompetenzen hatte und dass das Parlament schneller seine Arbeit hätte wieder aufnehmen sollen?

Ich teile diese Auffassung nicht. Natürlich kann man über die Verhältnismässigkeit gewisser Massnahmen diskutieren. Wer hingegen dem Bundesrat vorwirft, er habe zu lange und eigenmächtig regiert, ist im Denken des 2. Weltkrieges steckengeblieben. Damals dauerte das «Vollmachtenregime» ohne verfassungsrechtliche Grundlage über 12 Jahre, von 1939 bis 1952. Dieses Mal konnte sich der Bundesrat auf Art. 185 Abs. 3 BV abstützen. Zudem sind die darauf abgestützten Notverordnungen befristet. Es ist nun am Parlament, diese Massnahmen und Kreditbeschlüsse zu genehmigen und/oder ins ordentliche Recht überzuführen, was ja zum Teil schon geschehen ist. Der Bundesrat hat das Parlament übrigens schon früh eingeladen, seine Aktivitäten wieder aufzunehmen. Ob dies alles anders oder besser hätte gemacht werden können, bleibt zu untersuchen. Jedenfalls wird man vermutlich das Parlamentsgesetz und das Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz mit Bestimmungen anreichern müssen, die dem Parlament und den Kommissionen künftig in Notlagen mehr Informations-, Entscheidungs- und Kontrollrechte einräumen. Die Digitalisierung wird auch hier vieles möglich machen.

Als wie bedeutend schätzen Sie die Rolle der einzelnen BundesrätInnen ein?

Die Departementsvorsteher sind in der Vorbereitung und im Vollzug für ihren Bereich zuständig. Entschieden aber wird im Gesamtbundesrat, im «Kollegium». Um sicherzustellen, dass Anregungen und Kritik der Ämter und Departemente schon in der Vorbereitungsphase berücksichtigt werden können, finden Ämterkonsultationsverfahren und Mitberichtsverfahren statt. Der Bundesrat entscheidet also in Kenntnis der Vorbehalte und Vorschläge aller Departemente. Dabei spielt die parteipolitische Zugehörigkeit der einzelnen Bundesräte vermutlich eine geringere Rolle als angenommen. Es wird tatsächlich um die Entscheide gerungen und auch kaum je abgestimmt, weil die Entscheide letztlich von allen mitgetragen werden müssen.

«Wir werden hoffentlich bescheidener werden und erkennen müssen, dass für eine prosperierende Gesellschaft der wirtschaftliche Erfolg nicht allein massgebend sein kann.»

Was wird jetzt politisch geschehen müssen, um die langfristigen Folgen der Krise zu bewältigen?

Die politischen Folgen sind sicher weniger schlimm als die wirtschaftlichen und die sozialen Auswirkungen. Die Schweiz hat alles in allem die Krise relativ gut bewältigt. Politisch scheint mir wichtig, dass wir rasch wieder zum ordentlichen, demokratisch und rechts-staatlich fundierten Verfahren zurückzukehren. Zudem wird es notwendig sein, in allen Bereichen die langfristigen Schäden zu ermitteln, Korrekturen sorgfältig abzuwägen und gerechte Lösungen zu finden. Im Bereich der Wirtschaft sind die Folgen noch unabsehbar. Erholt sich die Wirtschaft nicht rasch genug, könnte es grosse Schäden geben. Die Wirtschaft ist mit viel Geld versorgt worden, was zu einer Inflation führen und verheerende Folgen haben könnte. Bedeutsam scheinen mir aber derzeit vor allem die gesellschaftlichen Auswirkungen. Die Krise hat uns bewusst gemacht, dass wir in jeder Hinsicht verwundbar sind. Es ist also Zeit, innezuhalten, über unser Verhältnis zu Natur und Umwelt, zu Gesellschaft und Wirtschaft, zur Globalisierung u.a.m. nachzudenken – und sich neu auszurichten.

Was denken Sie: wie können wir als Gesellschaft möglichst konstruktiv mit dieser neuen Verwundbarkeit umgehen, ohne in Intoleranz, Protektionismus und Totalitarismus und Intoleranz zu fallen?

Schön wäre es, wenn wir die vielerorts bekundete Solidarität gegenüber Notleidenden, älteren und einsamen Menschen sowie den Dienst- und Pflegeleistenden in die Zukunft hinein retten könnten. Ich denke, dass wir alle bescheidener werden und erkennen müssen, dass für eine prosperierende Gesellschaft nicht allein der wirtschaftliche Erfolg massgebend sein kann, sondern Werte zu beachten sind, die weit darüber hinausreichen wie die Solidarität und der Schutz der Schwachen.