Algorithmen in der öffentlichen Verwaltung: ein Gespräch mit Prof. Dr. iur. Nadja Braun Binder

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Liebe Nadja, das staatslabor-Team freut sich sehr, dass Du in unserer letzten staatskantine im Jahr 2017 zu Gast sein wirst. Wir werden dort mit Dir die spannende Frage der Nutzung von Algorithmen in der öffentlichen Verwaltung aus rechtlicher Sicht besprechen. Kannst Du uns kurz erklären, warum dieses Thema gerade aktuell ist?

Zwar werden Algorithmen in der öffentlichen Verwaltung schon seit Jahrzehnten genutzt. Man denke nur an die ersten Lochkartencomputer und elektronischen Datenverarbeitungsanlagen, die ihren Einsatz auch in der Verwaltung fanden. Seit den Anfängen von E-Government ist aber zunehmend ein Einsatz von Algorithmen zu beobachten, der über die reine Büroautomation hinausgeht. Der Trend geht dahin, Algorithmen für die Entscheidungsvorbereitung einzusetzen oder gar dahin, Entscheidungen losgelöst von jeglicher menschlichen Intervention zu fällen. Diese Entwicklungen können unter dem Stichwort Smart Government zusammengefasst werden. Die Verwaltung darf allerdings nur aufgrund und im Rahmen einer gültigen gesetzlichen Grundlage handeln (Gesetzmässigkeitsprinzip). Entsprechend sind auch für den Einsatz von Algorithmen im Rahmen von Smart Government gesetzliche Grundlagen notwendig. Hier stellen sich aktuell zwei Fragen: Zum einen, ob bereits entsprechende Grundlagen vorhanden sind, die für Smart Government herangezogen werden können und zum anderen, wie die gesetzlichen Grundlagen auszusehen haben, die gegebenenfalls neu geschaffen werden müssen.

Einfach erklärt, was ist denn im Moment die gesetzliche Grundlage in der Schweiz?

Die aktuelle Lage lässt sich zugespitzt mit folgendem Wort umschreiben: Rechtszersplitterung. Es gibt in diversen Gesetzen auf den verschiedenen Staatsebenen Grundlagen, die auf einzelne Anwendungen oder einen begrenzten Kreis von Sachverhalten ausgerichtet sind. Dies ist einerseits mit der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen und andererseits mit dem auf den einzelnen Staatsebenen durch die Departementsstruktur geförderten Ressortdenken erklärbar. Nehmen wir als Beispiel das aktuelle Rechtsetzungsvorhaben für ein Bundesgesetz über  elektronische Identifizierungsdienste. Die E-ID wird allgemein als notwendige Voraussetzung für durchgehend digitale Angebote des Staates betrachtet. Bundesgesetzlich können allerdings nur Vorgaben für Behörden, die Bundesrecht vollziehen, verankert werden. Im Vernehmlassungsverfahren wurde dies von verschiedenen Seiten bemängelt und eine zentrale Akzeptanznorm, welche die E-ID in der gesamten Rechtsordnung und für alle Behördenbelange als akzeptiert anerkennt oder ein Auftrag an die Gemeinden und Kantone, die E-ID auch für den Vollzug von kantonalem Recht vorzusehen, gefordert. Diesen Forderungen steht die verfassungsrechtliche Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen entgegen. 

Was bedeutet dies nun für die Weiterentwicklung der Rechtsgrundlagen? 

Ich bin der Überzeugung, dass trotz der heterogenen Kompetenzverteilung und der Notwendigkeit, fachgebietsbezogene Rechtsgrundlagen zu schaffen, gewisse grundlegende Fragen einheitlich zu lösen sind. Eine solche Querschnittsmaterie mit Relevanz im Bereich von Smart Government stellt zum Beispiel der Datenschutz dar. Auch hier gilt eine spezifische Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen. Da die Verfassung keine Bestimmung enthält, die die Aufgabe des Datenschutzes dem Bund zuweist, hat der Bund keine Kompetenz, den Datenschutz umfassend zu regeln. Er kann in datenschutzrechtlichen Fragen vielmehr lediglich im Rahmen einer sogenannten "Annexkompetenz" Regeln erlassen, wenn er im betreffenden Bereich auch über eine Sachkompetenz verfügt. Entsprechend gilt das Datenschutzgesetz des Bundes (DSG) nur für Bundes- nicht aber für kantonale Behörden. Und dies selbst dann nicht, wenn die kantonalen Behörden Bundesrecht vollziehen (Art. 2 Abs. 1 lit. b DSG). Die Vorgaben für kantonale Behörden sind in den kantonalen Datenschutzgesetzen enthalten. Obwohl im Bereich des Datenschutzes damit verschiedene Gesetze existieren, stimmen die wesentlichen Datenschutzgrundsätze auf Bundes- und kantonaler Ebene überein - auch wenn einzelne Formulierungen divergieren. Eine ähnliche Stossrichtung könnte und sollte meines Erachtens die Regelung weiterer Querschnittsmaterien, die für eine Digitalisierung der Verwaltungstätigkeit relevant sind, einschlagen.

Du hast Smart Government angesprochen. Kannst Du uns einige Beispiele nennen, wofür Algorithmen in der öffentlichen Verwaltung derzeit eingesetzt werden und welche neuen Anwendungsbereiche für die Zukunft interessant sein könnten?

Der Begriff „Smart Government“ wird nicht einheitlich verwendet. In Anlehnung an die sogenannte „Häfler Definition von Smart Government“ kann darunter ein intelligent vernetztes Regierungs- und Verwaltungshandeln verstanden werden. Erfasst werden sowohl E-Government als auch Open Government inklusive Big Data und Open Data. Oder anders gesagt: Es geht um die Nutzung des Internets der Dienste und des Internets der Dinge für das Regierungs- und Verwaltungshandeln. Als konkretes Beispiel ist etwa der Einsatz von Digitalkameras, Wärmebildkameras und anderen Sensorsystemen zur automatischen Überwachung des Verkehrsflusses auf den Strassen zu erwähnen. Die Vernetzung von Verkehrssensoren und Verkehrsdichtemessgeräten erlaubt es etwa, die Tempolimits unmittelbar der Verkehrsdichte anzupassen. Als künftige Entwicklung im Bereich des Strassenverkehrs ist auf selbstfahrende Autos hinzuweisen. Der Bund unterstützt derzeit verschiedene Pilotversuche mit Blick auf teil- oder vollautomatisierte Fahrzeuge. Eine weitere Technologie, die künftig die Verwaltungstätigkeit nachhaltig verändern könnte, stellt die Blockchain dar. Derzeit stehen verschiedene Ideen für den Einsatz von Blockchain in der öffentlichen Verwaltung im Raum, angefangen von der Nutzung für die elektronische Bearbeitung und Archivierung offizieller Dokumente (Pilotprojekt im Kanton Genf), über die Akzeptanz der Kryptowährung Bitcoin in der Stadt Zug bis hin zur Nutzung von Blockchain für die papierlose Stimmabgabe („Dematerialisierung“) im Rahmen von eidgenössischen Volksabstimmungen.

Nadja, Du hast den Datenschutz erwähnt. Welche weiteren Querschnittsmaterien sollten im Zusammenhang mit Smart Government geregelt werden?

Die Herausforderungen für den Gesetzgeber sind vielfältig. Ich sehe Handlungsbedarf in verschiedenen Themenfeldern. So gilt es, einen Standard zu definieren, was die Kontrolle von in der Verwaltung eingesetzten Algorithmen angeht. Damit meine ich natürlich nicht, dass jedes Computerprogramm einer speziellen Kontrolle unterzogen werden muss. Ab einem gewissen Grad der Komplexität, insbesondere dort, wo lernende Algorithmen eingesetzt werden, muss die Verwaltung aber sicherstellen, dass diese korrekt funktionieren. Dies kann nur durch entsprechende Kontrollen geschehen. Ein weiteres Thema mit Querschnittcharakter ist die Frage nach der Verteilung von Verantwortlichkeiten im Zusammenhang mit komplexen Algorithmen. Gerade bei der Blockchain-Technologie, die nicht zentral gesteuert wird, sondern vielmehr eine Art verteilte Datenbank darstellt, stellt sich die Frage, welche Aspekte noch in den Verantwortungsbereich der Verwaltung fallen. Schliesslich wird sich der Gesetzgeber früher oder später mit der Frage beschäftigen müssen, ob bzw. inwieweit die menschliche Komponente in Verwaltungsverfahren durch Algorithmen ersetzt werden darf. Soll ein Programm ein komplettes Verfahren vollautomatisiert abwickeln können? Und soll dies auch im Falle von Entscheidungen mit Ermessensspielraum möglich sein? Diese grundlegenden Fragestellungen stellen sich in verschiedenen Bereichen. Im Sinne der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit bietet es sich an, diese einheitlich zu regeln. Präzisierende Vorgaben in Spezialgesetzen können diese generellen Vorgaben für den Algorithmeneinsatz durch die Verwaltung bei Bedarf punktuell ergänzen.

Prof. Dr. iur. Nadja Braun Binder promovierte 2005 mit einer Doktorarbeit zum „Stimmgeheimnis“ an der Universität Bern. 2017 habilitierte sie sich an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer. Von 2001 bis 2011 arbeitete sie in der Schweizerischen Bundeskanzlei als Juristin in der Sektion Politische Rechte und Projektleiterin e-voting, die letzten drei Jahre als Leiterin der Sektion Recht. Danach war sie als Forschungsreferentin und Koordinatorin des Programmbereichs "Transformation des Staates in Zeiten der Digitalisierung" am Deutschen Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung (Speyer) tätig. Seit dem 1. September 2017 ist sie Assistenzprofessorin für Öffentliches Recht unter besonderer Berücksichtigung europäischer Demokratiefragen an der Universität Zürich bzw. am Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA). Zu Ihren Forschungsschwerpunkten zählen rechtliche Aspekte der Digitalisierung in Staat und Verwaltung sowie Rechtsfragen im Zusammenhang mit (direkter) Demokratie und Populismus.