Wenn Einwohnerinnen die Sicherheit im öffentlichen Raum mitgestalten: Das SafetiPin-Projekt in Bogotá

Bogota Street

Catalina Quintero Bueno und César Pinzón-Medina vom Bezirkssekretariat für Frauen in Bogotá widmen sich einem wichtigen Thema: Der Sicherheit von Frauen im öffentlichen Raum. Zusammen mit der Organisation SafetiPin aus Neu-Delhi führten sie eine geodatenbasierte App ein, mit der BenützerInnen die Sicherheitslage an jedem Ort der Stadt einzeln bewerten können. In unserem Interview berichten sie über den partizipativen Prozess der Implementierung, die Süd-Süd-Zusammenarbeit zwischen Indien und Kolumbien und die Wirkungen des Projekts. 

Liebe Catalina, lieber César, danke für eure Zeit. Wie habt ihr vom indischen Produkt SafetiPin erfahren? Wie lief die Anpassung an die Bedingungen in Kolumbien?

Catalina: Die Sicherheit von Frauen im öffentlichen Raum war für das Sekretariat für Frauen schon immer ein wichtiges Anliegen, welchem wir uns mit einem Projekt verstärkt widmen wollten. Für das International Seminar for Safe Cities im Jahr 2013 in Bogotá haben wir uns auf die Suche nach internationalen Projekten gemacht, die innovative Antworten auf verschiedene gesellschaftliche Probleme im öffentlichen Sektor gefunden haben. So sind wir auf SafetiPin in Neu-Delhi gestossen. Die Gründerin, Dr. Kalpana Viswanath, besuchte uns danach, um das Projekt vorzustellen und uns zu erklären, wie die Applikation funktioniert. Uns war sofort klar, dass wir die App auch in Bogotá einsetzen wollten. Da diese ursprünglich auf Englisch entwickelt wurde, mussten wir zunächst alles auf Spanisch übersetzen und dabei an unseren Kontext anpassen. Dies geschah in sehr enger Zusammenarbeit mit dem Team in Indien. 

Wie gestaltete sich der Prozess der Implementation?

César: Wir haben zunächst mit fünf Taxis die ganze Stadt drei Monate lang befahren. Die App macht alle fünfzig Meter oder jede anderthalb Minuten ein Foto. Am Ende des Tages hatten wir eine Zusammenstellung von aufgenommenen Fotos, die in der Nacht in Indien auf einen Server hochgeladen und von einem Algorithmus nach neun Variablen bewertet wurden:

  • 1. Beleuchtung
  • 2. Offenheit des Gebiets
  • 3. Eigene Sichtbarkeit im Gebiet
  • 4. Anwesenheit von genügend anderen Personen
  • 5. Anwesenheit von öffentlichen und privaten Sicherheitsbeauftragten
  • 6. Zustand der Strasse oder Wege
  • 7. Nähe zum öffentlichen Verkehr
  • 8. Präsenz von Männern und Frauen
  • 9. Subjektives Sicherheitsgefühl

Danach gab es eine Evaluation der Fotos durch die zuständigen Personen in Indien. Diesen Prozess mussten wir sehr eng begleiten, da sich die Bedingungen in Bogotá klar von denen in Delhi unterscheiden. Wir erklärten ihnen mit Hilfe von Fotos und Videos die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel in Kolumbien und die Frage der Polizeipräsenz, eine der untersuchten Variablen. Auf diese Weise konnten wir mehr als 17.000 Punkte (Pins) in Bogotá  erfassen, von denen uns jeder einzelne Informationen über diese neun Variablen liefert.

Die Auswahl der erfassten Punkte habt ihr nicht alleine getroffen, sondern seid NutzerInnen-zentriert vorgegangen. Wie?

César: Wir haben uns schon am Anfang des Projekts an die lokalen Frauensicherheitsräte gewandt, welche es in jedem der 19 städtischen Bezirke von Bogotá gibt. Da es nur 4'000 Kilometer waren, die wir in Fahrzeugen befahren konnten und Bogotá aber aus etwa 15'000 Kilometer Autostrasse besteht, mussten wir Prioritäten setzen. Die einzelnen Frauensicherheitsräte teilten uns mit, wo sie dringende Sicherheitsprobleme sahen und wir einen Fokus setzen sollten. Wir schenkten diesen Hinweisen grosse Beachtung und stellten sicher, dass Frauen mit unterschiedlichen soziodemographischen Merkmalen miteinbezogen wurden. Jede dieser Gruppen gab uns Anregungen, wo wir ihrer Meinung nach Messungen durchführen sollten. Nachdem wir die erhaltenen Informationen erfasst hatten, stellten wir fest, dass ein Teil der Orte, die uns die Frauen für eine Messung vorgeschlagen hatten, in der Nähe der städtischen Feuchtgebiete lagen, welche nicht mit dem Auto erreichbar sind. Die Fahrradwege verlaufen jedoch durch diese Gebiete. Deshalb haben wir unsere Methode zur Datenerhebung angepasst und als erste SafetiPin-Stadt (insgesamt sind es 12 Städte in Indien, Kenia, den Philippinen, Indonesien und Kolumbien) auch Fahrräder in den Prozess integriert. Damit konnten wir 400 zusätzliche Kilometer abdecken.

Wie verlief die Zusammenarbeit mit SafetiPin?

Catalina: Die Zusammenarbeit gestaltete sich von Beginn an sehr flüssig und anregend. Das Team von SafetiPin ist zwei- oder dreimal nach Bogotá gekommen und hat uns gezeigt, wie die App funktioniert. Als die Idee aufkam, auch Fahrräder miteinzubeziehen, wurden den Gründern von SafetiPin bewusst, wie auch sie von dieser Kooperation profitieren konnten.

César: Sie waren immer offen für neue Vorschläge, wenn wir beispielsweise eine neue Variable einbinden oder eine bestehende anders messen wollten. Meiner Meinung nach war es eine Partnerschaft mit grossem Nutzen für beide Parteien, ein Beispiel einer "good practice" in vieler Hinsicht.

Welche Wirkungen hat das Projekt?

César: Wie bereits erwähnt stellte die Sicherheit der Frauen im öffentlichen Raum schon immer ein wichtiges Thema für uns dar. Wir hatten zuvor aber nicht genügend zugängliche Informationen. Dies änderte mit SafetiPin. Nun haben wir genau lokalisierte und beschriebene Punkte, womit wir Daten erfassen und als Quelle für Informationen über die Sicherheit im öffentlichen Raum dienen können. Mit der Erstellung eines Sicherheitsindexes wurden die Sicherheitsprobleme noch besser sichtbar. Damit können wir für andere Initiativen des Sekretariats einfacher Partner finden. Safetipin und die gesammelten Daten haben für uns im Grunde genommen eine Evidenzgrundlage geschaffen, auf der wir budgetäre und politische Entscheidungen treffen können.

Bei der öffentlichen Sicherheit denkt man sofort an die Polizei. Wie sah die Kooperation mit dieser aus?

César: Mit der Stadtpolizei von Bogotá hatten wir vor allem bezüglich der Eskorte gewisser Touren zu tun. Die Messungen wurden nachts durchgeführt und es gab Stadtteile, in denen wegen der Sicherheitsprobleme sogar die Durchfahrt mit dem Auto zu unsicher war. Das war die einzige Interaktion, die wir mit der Polizei hatten. Wir präsentierten ihnen dann die Ergebnisse: Einer der Punkte, in welchen Bogotá am schlechtesten abschnitt, war die “Anwesenheit von öffentlichem Sicherheitspersonal”. 80 Prozent der Punkte wiesen gemäss den NutzerInnen keine Präsenz auf. Dieses Resultat war für die Polizei dann natürlich eher problematisch. (lacht)

Stellt SafetiPin auch eine Art präventive Massnahme dar?

Catalina: Ja, denn es ermöglicht den Frauen, die Orte zu lokalisieren, an denen Gewalt gegen Frauen am ehesten im öffentlichen Raum auftritt. Mit der App können sie von den Faktoren erfahren, welche die Wahrscheinlichkeit für Gewalt erhöhen und dann auf einen anderen Weg ausweichen, um ans Ziel zu kommen.

Ein wichtiger Faktor ist die Beleuchtung: Wir haben es geschafft, die Orte mit wenig Beleuchtung zu erhellen, was die Bedingungen für die Sicherheit von Frauen an diesen Orten stark verbessert hat. Somit ist es nicht nur ein Mittel, um Informationen zu erhalten, sondern auch um Informationen für die Prävention zu nutzen.

SafetiPin war nicht die einzige Institution, mit welcher ihr zusammengearbeitet habt. Welche öffentlichen Institutionen waren ebenfalls involviert?

César: Wir haben die App bereits kurz nach der Implementierung auf dem World Urban Forum von UN-Habitat in Medellín präsentiert. Später hat uns dann die Development Bank of Latin America (CAF) angefragt, ob wir an der Ausschreibung für ein Projekt in Verbindung mit Verkehrssicherheit im öffentlichen Raum für Frauen teilnehmen möchten. Die CAF ist eine der Partnerinstitutionen, welche gemeinsam mit dem deutschen Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung die Initiative für transformative urbane Mobilität (TUMI) ins Leben gerufen hat. Wir haben uns dann mit SafetiPin und der CAF zusammengeschlossen, um eine dritte Erfassung durchzuführen. Damit haben wir fast die Gesamtabdeckung von Bogotá im städtischen Teil erreicht, im ländlichen Teil waren leider bisher keine Messungen möglich.

Catalina: Zudem haben uns andere Städte wie Quito in Ecuador und eine Stadt in Guatemala angefragt, welche grosses Interesse an der Nutzung der Applikation haben.

Habt ihr eine Empfehlung, wie man ein solches Projekt in einem sehr kleinen und föderalistisch organisierten Land wie der Schweiz umsetzen könnte?

César: Da bin ich gerade etwas überfordert! (lacht) Ich weiss nicht viel über das Schweizer System. Aber dieses Vorgehen der Informationserfassung ist sehr effizient in städtischen Zentren. Um SafetiPin auch in der Schweiz umzusetzen, wäre es sicherlich wichtig, eine App zu finden, die jeder schon auf seinem Smartphone benutzt. Damit könnte es auch in der Schweiz funktionieren, aber natürlich wäre es ganz anders als in Bogotá.

 

Das Bezirkssekretariat für Frauen (Secretaría distrital de la mujer) ist ein Sektor der Zentralverwaltung von Bogotá (Kolumbien) mit administrativer und finanzieller Autonomie, welcher im Jahr 2012 als Antwort auf eine Kernforderung der Frauenbewegung erschaffen wurde. Das übergeordnete Ziel der Behörde ist die Förderung der Chancengleichheit von Frauen. Mittels Unterstützung bei der Konzeption, Formulierung, Umsetzung und Bewertung der öffentlichen Politik für Frauen sorgt das Sekretariat für die Einhaltung der nationalen Rechtsvorschriften und internationalen Gender-Agenda.

Catalina Quintero Bueno ist die Direktorin für Wissensmanagement im Bezirkssekretariat für Frauen. Als Anwältin und Soziologin hat sie viel Erfahrung in internationalen und zivilgesellschaftlichen Organisationen in der Gestaltung, Implementierung und Koordination von sozialen Projekten gesammelt und ist auf qualitative Studien und Policy-Analysen spezialisiert. 

César Pinzón-Medina arbeitet als spezialisierter Fachmann für Wissensmanagement im Bezirkssekretariat für Frauen und hatte die Verantwortung für die Implementierung von Safetipin in Bogotá im Jahr 2015.