Wie innoviert Wien? Ein Gespräch mit Norbert Weidinger, stv. Leiter IKT-Strategie der Stadt Wien

Weidinger

Wieso können Verwaltungen ihre Services nicht ähnlich einfach und zusammenhängend wie Google oder Amazon anbieten? Für Norbert Weidinger, stellvertretender Leiter der Gruppe Prozessmanagement und IKT-Strategie (Informations- und Kommunikationstechnologie) der Stadt Wien, ist das eine Erwartung, die Bürger/-innen zurecht an heutige Verwaltungen stellen - und auf die sie entsprechend antworten müssen. In unserem Interview erklärt er, wie Wien nutzerorientierte IT-Innovation betreibt, bei welchen Dienstleistungen man am besten mit Digitalisierungsprozessen beginnt und welche Rolle Datenschutz und Föderalismus auf dem Weg zu integrierten öffentlichen Dienstleistungen spielen.

Lieber Herr Weidinger, sind sie beruflich schon einmal gescheitert?

(lacht) Das ist eine gute Frage. Da muss man natürlich die Gegenfrage stellen: Was bedeutet Scheitern? Das eine oder andere Projekt ist wohl nicht so zu Ende gegangen ist wie geplant, das ist unvermeidlich. Allerdings war ich in den Rollen, die ich im Laufe der Jahre inne hatte, ausschliesslich mit strategischen, komplexen, grossen Projekten beschäftigt. Das waren dann auch häufig solche, die im Kern nicht scheitern durften. Ein typisches Beispiel war in den 1990er Jahren etwa die Implementierung der IT für das damals neue allgemeine Krankenhaus in Wien. Eine funktionsfähige IT war Voraussetzung, also musste man einfach die Wege dafür finden. Ich denke, es ist charakteristisch für die öffentliche Verwaltung, dass viele Aktivitäten letztlich einfach zu tun sind und funktionieren müssen.

Ist der öffentliche Sektor also ein risikoaverses Umfeld, weil bezüglich Leistungserbringung meist gilt: Scheitern verboten?

Das ist jetzt eine unzulässige Verkürzung, das würde ich definitiv nicht ganz so umschreiben. Insbesondere in der Stadt Wien haben wir immer wieder extrem innovative Themen gesetzt, die per se ein gewisses Risiko beinhalten.

Können Sie Beispiele nennen?

Das geht über die Technologien und die internen Anwendungen bis hin zu dem, was wir konkret machen. Wir haben zum Beispiel beim Thema E-Government Schwerpunkte gesetzt zu einem Zeitpunkt, wo wirklich auch medial noch kaum jemand daran geglaubt hat. Wir investierten frühzeitig, um den Bürgerinnen und Bürgern ein möglichst umfassendes Angebot für online-Abwicklungen machen zu können. Das war ein Risiko, genauer ein Akzeptanzrisiko. Wir wussten letztlich nicht, ob unser Angebot angenommen wird. Heute können wir sagen: Es hat sich gelohnt, es war das Risiko wert.

Zudem haben wir vor rund vier Jahren für die Digitale Agenda Wien einen, meines Wissens jedenfalls in Mitteleuropa, einzigartigen Partizipationsprozess genutzt. Es konnte theoretisch jeder seine Themen einbringen, sich in Fokusdiskussionen einklinken und mitdiskutieren. Aus organisatorischer Sicht halte ich dies letztlich für ein Risiko, denn wenn Sie eine Bevölkerung von 1.8 Millionen Leuten einladen, sich zu beteiligen, müssen Sie damit auch umgehen können. Eine Standard-Vorgehensweise einer Verwaltung, die risikoavers ist, würde wahrscheinlich anders ausschauen.

Somit gibt es an der “Bürgerschnittstelle”, wie Sie es auch nennen, eine Wechselwirkung zwischen verschiedenen Risiken: Partizipation bedeutet für die konventionelle Verwaltung ein Risiko, weil Gestaltungsmacht nach aussen gegeben wird. Andererseits sinkt durch Partizipation ein anderes Risiko für den öffentlichen Dienst - nämlich das Akzeptanzrisiko, weil man die Nutzerinnen und Nutzer in die Erarbeitung der Lösung mit einbezieht. Haben dabei Informations- und Kommunikationstechnologien ein grosses Potential, um diese “Bürgerschnittstellen” partizipativer zu gestalten? 

Absolut. Wir haben mittlerweile einen weiteren Partizipationsprozess in der IT umgesetzt, und zwar rund um die App “Sag’s Wien”, die Anliegen der Bürgerinnen und Bürger mit Geoinformationen und unmittelbaren Feedbacks in optimierte Backoffice Prozesse der Stadt einbettet. Die App wurde über einen Partizipationsprozess realisiert und begleitet. Das ist sehr gut angekommen: Mit toller Beteiligung und auch jetzt in der Nutzungsphase mit sehr guten Feedbacks. Für die Zukunft sind einige Themen in Vorbereitung, die wir genau so aufsetzen werden, das ist gar keine Frage. Das hat sehr viel Potential.

Dass das Potential von digitalen Kanälen für mehr Bürgerinnen- und Bürgerbeteiligung da ist, sehen viele. Oft baut man aber dann für viel Geld eine App oder eine Plattform, die kaum genutzt wird, weil man vielleicht ein abstraktes Mitbestimmungsbedürfnis, nicht aber den konkreten Bedarf nach einem bestimmten Kanal berücksichtigt. Sehen Sie das in der Praxis auch? Haben Sie Erfahrung mit solchen Kanälen, die geöffnet, aber dann nicht genutzt werden?

Ja und nein. Selbstverständlich haben wir in Wien Erfahrung mit solchen Kanälen - aber Gott sei Dank nicht mit solchen, die wir selber geöffnet haben. Es gibt auch in der österreichischen Verwaltung vereinzelt Partizipationskanäle, die nicht den grossen Erfolg zeigen. Die Bundesverwaltung beispielsweise hat vor Jahren zentrale Plattformen errichtet, die aber in der Vergangenheit nicht die Nutzungszahlen gebracht haben, die man sich erwartet hat. Das ist bei uns anders.

Warum?

Nun, wir haben in der öffentlichen Verwaltung eine gewisse Spreizung zwischen jenen Bereichen, die tatsächlich direkt an der Bürgerin und dem Bürger agieren - im Kern die Kommunalebene, allenfalls die Landesebene, vergleichbar mit der Kantonalebene bei Ihnen in der Schweiz - und jenem Bereich, der sehr generelle, häufig abstrakte Themen verantwortet: eben die Bundesebene. Je näher die Verwaltung direkt an der Bürgerin bzw am Bürger ist, desto unmittelbarer wird sie auf konkrete Anliegen reagieren: Wo sind Müllsammelstellen? Wann fährt das nächste Tram ins Theater? Da hat die Verwaltung die Chance, auch noch andere Services schmackhaft zu machen, egal ob auf der Webseite oder auf der App. Zum Beispiel haben wir durch entsprechende IT-Massnahmen erreicht, dass heute fast 90% der Hunde elektronisch angemeldet werden. Das klingt jetzt banal, aber solche E-Services werden offensichtlich genutzt, weil sie auf konkrete Anliegen antworten.

Daraus folgt ein interessanter Punkt: Das Digitale, das eigentlich globale Distanzen überwinden kann, scheint dort am meisten Wert zu schaffen, wo man sich ganz konkret im lokalen Alltag befindet.

Ja. 

Dann ist es am einfachsten, mit Digitalisierungsprozessen lokal zu beginnen und die Leute von dort dann in weitere Prozesse mit hineinzunehmen?

Ja, das glaube ich auch. Die Grundidee der Stadt Wien ist, für die eigenen Bürgerinnen und Bürger einen maximalen und greifbaren Mehrwert zu schaffen, und da haben wir eine ganze Reihe von Projekten in Vorbereitung, um die Services, die wir selber erbringen, zu optimieren. Wo, wie und wann das durch neue technologische Lösungen gemacht werden kann, ist jeweils ganz pragmatisch zu überlegen. In Österreich gibt es eine Kennzahl: Wie viele Behördenkontakte hat ein Bürger pro Jahr? Das sind 1.5 bis 1.7. Wenn ich die Steuererklärung wegnehme, sind das 0.5 bis 0.7 Kontakte pro Jahr. So wahnsinnig oft ist das auch wieder nicht. Als Bürger interessiert mich denn auch nicht als erstes, ob ich den Reisepass digital beziehen kann, weil den brauche ich alle 10 Jahre. Der Mistkübel hingegen brauche ich oft. Also geht es jeweils darum anzuschauen, wo die grösste Betroffenheit liegt.

Eine Problematik, die im Zusammenhang mit der Digitalisierung der Bürgerkontakte immer wieder genannt wird, ist der Datenschutz. Wie sehen Sie dieses Thema?

Es ist keine Frage, dass wir in Mitteleuropa eine andere kulturelle Tradition haben als in anderen Ländern, was Datenfreigabe betrifft. Damit müssen wir umgehen, und mit der Datenschutzgrundverordnung haben wir jetzt auch ein umfassendes europäisches Regulatorium. Wir haben uns in Österreich sehr frühzeitig mit der Frage der elektronischen Identität auseinandergesetzt. Wir erreichen heute schon über eine Million Personen, die über eine Handy-Signatur zur Identifikation im Internet verfügen. Das ermöglicht uns, diesen Leuten personalisierte Services punktgenau und unter voller Wahrung des Datenschutzes anzubieten. 

Parallel dazu gibt es auch sehr viele Themen, wo die Verwaltung einen Service anbieten kann und diese elektronische Identifikation gar nicht erforderlich ist. Beispielsweise haben wir vor einigen Jahren das IT-System für die österreichische Gewerbeverwaltung neu aufgesetzt, das wir in Wien entwickelt haben und die heute auch für ganz Österreich betreiben. Hier muss ich mich nicht mit elektronischer Identität identifizieren und keinen Reisepass mitschicken, wenn ich ein neues Gewerbe registrieren will. Das ist ein Angebot, wo wir deutlich über 50 Prozent online-Quote haben.

In der Schweiz argumentieren kritische Stimmen bezüglich Datenverknüpfung nicht nur mit dem Datenschutz, sonder auch mit verschiedenen Zuständigkeiten etwa zwischen Bund und Kantonen. Und in Österreich?

Das ist ein sehr interessantes Thema. Auf der einen Seite gibt es in Österreich in der Datenschutzgesetzgebung ein System von sogenannten Verwaltungsbereichen, die eine Abgrenzung von zulässigen Datenübermittlungen vorgibt. Es ist zum Beispiel offensichtlich nicht zulässig, dass die städtischen Wohnungsverwalter bei den städtischen Spitälern nachschauen, welche Krankheitsbilder ihre Mieter haben. Auf der anderen Seite haben wir im österreichischen E-Government seit gut fünfzehn Jahren eine ganze Reihe zentraler Register implementiert, die eine einheitliche Verwaltung ermöglichen, etwa das Gewerberegister, das Melderegister oder das Staatsbürgerschaftsregister. Diese haben wir mit Schnittstellen versehen und mit sehr starken Berechtigungsordnungen ausgestattet. Ich muss aber allerdings zugeben, die Erarbeitung und Entwicklung solcher gemeinsamen Register erfordert ein klares gemeinsames Interesse und einen intensiven Abstimmungsprozess.

Was sind denn aus Ihrer Sicht die wichtigsten Herausforderungen, die konkret vor Ihnen liegen im Bereich IT und Digitalisierung im öffentlichen Sektor? 

Wir können nicht ignorieren, dass wir Bürgerinnen und Bürgern gegenüber stehen, die gewohnt sind, Services von Google und Amazon zu nutzen und nicht ganz verstehen können, wieso Verwaltungen das nicht ähnlich einfach und ähnlich zusammenhängend anbieten können. Letzten Endes reden wir nicht mehr nur über die Frage von one-stop Lösungen, sondern von no-stop Lösungen. Gleichzeitig sind wir als Verwaltung für alle Bürgerinnen und Bürger verantwortlich, es wird immer Leute geben, die mit neuen Technologien nicht umgehen können oder wollen. Auch jene müssen wir verantwortungsvoll servicieren. Und schliesslich haben wir natürlich beschränkte Budgets, wo wieder der Punkt der Partizipation zentral ist: So haben wir die Chance, die Schwerpunkte aus der Sicht der Bürgerin zu definieren und gezielt Prioritäten für einen optimalen öffentlichen Dienst zu setzen.
 

Dipl.-Ing. Norbert Weidinger ist seit 2005 in der Magistratsdirektion der Stadt Wien stellvertretender Leiter der Gruppe Prozessmanagement und IKT-Strategie im Geschäftsbereich Organisation und Sicherheit. Neben der Begleitung der technischen IKT-Konsolidierung innerhalb der Stadt Wien und der strategischen Steuerung von IKT-Grossprojekten sind seine Aufgabenschwerpunkte IKT-Strategie und IKT-Governance in der Stadt Wien, die E-Government Entwicklung innerhalb der Stadt Wien und im Kontext der nationalen Kooperation mit Bund, Ländern und Städten sowie die diesbezügliche europäische Zusammenarbeit.