Wie ein neues Justizverständnis die Bedürfnisse der Betroffenen stärker ins Zentrum stellt

Justizgebäude und Himmel

von Samira Keller und Medea Fux

Camille Perrier Depeursinge ist Professorin für Strafrecht an der Universität Lausanne, seit 2012 Anwältin im Kanton Waadt und langjährige Präsidentin des ‘Verbands für restaurative Gerechtigkeit in der Schweiz (AJURES)’. An einer unserer digitalen Veranstaltungen diskutierten wir mit ihr und über 70 Teilnehmenden aus der gesamten Schweiz darüber, wie restaurative Gerechtigkeit unsere aktuelle Strafjustiz ergänzen und menschenzentriert gestalten kann. 

Restaurative Gerechtigkeit ermöglicht aktive Partizipation der Betroffenen
In einem Strafprozess tritt der Staat als Ankläger gegenüber einer beschuldigten Person auf. Die von ihr durch die Straftat begangene Verletzung des gesellschaftlichen Zusammenlebens wird von den Behörden verfolgt und beurteilt. Der Fokus liegt auf der Bestrafung der beschuldigten Person, einer Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung und auf der Rehabilitierung der straffälligen Person. In diesem System der Vergeltungsjustiz nehmen Opfer und Täter mehrheitlich eine Beobachterrolle ein und der Sachverhalt wird von Dritten ausgelegt und beurteilt. Die Strafjustiz in der Schweiz und in weiten Teilen der westlichen Welt basiert zu grossen Teilen auf diesem Prinzip. Mit diesem Ansatz stösst man jedoch immer wieder an Grenzen, was die Bekämpfung der Rückfälligkeit, die soziale Wiedereingliederung der verurteilten Personen und auch die Anerkennung der Rechte der Opfer betrifft.

 
Die sogenannte restaurative Gerechtigkeit (wird auch restaurative Justiz oder Wiedergutmachungsjustiz genannt) basiert auf einem etwas anderen Gerechtigkeitsverständnis. Sie versucht, mit alternativen Methoden auf die Bedürfnisse der betroffenen Individuen einzugehen und somit den Menschen ins Zentrum zu stellen. Auf diesem Weg soll die traditionelle Strafjustiz genau dort ergänzt werden, wo diese an ihre Grenzen stösst. 


Die Methoden der restaurativen Gerechtigkeit sind vielfältig und beinhalten unter anderem strafrechtliche Mediationen, Wiederherstellungsdialoge oder Familiengruppengespräche. Gemeinsam ist diesen Methoden, dass sie den Dialog zwischen den Beteiligten fördern und den Tätern und den Opfern eine zentrale Rolle im Prozess geben. Essentiell ist, dass alle Gesprächsformen auf dem Konsens aller beteiligten Personen basieren. Wenn jemand kein Gespräch führen möchte, wird darauf verzichtet. Findet ein Gespräch statt, so wird dieses von einer professionellen Person vorbereitet und geführt. Die Fachperson für Mediation entscheidet im Einzelfall, welche Art von Austausch zielführend sein könnte und wie man diesen gestaltet. Das Ziel eines restaurativen Austauschs ist weniger die formelle Unterzeichnung einer Übereinkunft sondern eine symbolische Konfliktlösung. Im Rahmen eines Austauschs können Opfer den Tätern beispielsweise Fragen stellen, welche für ihre Verarbeitung der Straftat wichtig sind. Oftmals wird in Gesprächen über die Beweggründe für die Tat gesprochen und Opfer erhalten auch die Chance ihre Situation dem Täter zu erklären. Camille Perrier-Depeursinge ist Expertin auf diesem Gebiet, forscht zu alternativen Konfliktlösungsmethoden und nimmt aktiv an der öffentlichen Debatte teil. Unter anderem hat sie ein Buch veröffentlicht zum Thema ‘Mediation im schweizerischen Strafrecht’.


Restaurative Methoden haben viele positive Konsequenzen
Verschiedene Länder, wie beispielsweise Frankreich und Belgien, setzen Methoden der restaurativen Gerechtigkeit bereits standardmässig ein. Diese Anwendungen in der Praxis und weitere Pilotversuche zeigen die Vorteile der restaurativen Gerechtigkeit auf. Die Rückfallquote ist niedriger, wenn restaurative Methoden zum Einsatz kommen. Eine Analyse von acht sehr unterschiedlichen Untersuchungen zeigt, dass Täter, welche an Austausch-Programmen zwischen Opfern und Tätern teilgenommen haben, eine im Mittel um ca. 5% tiefere Rückfallquote aufweisen als in herkömmlichen Prozessen. Weiter sind auch die Kosten dieses Ansatzes niedriger als in der konventionellen Strafjustiz. Grund dafür sind die tieferen Personalkosten von Fachpersonen für Mediation gegenüber juristischem Personal und, dass Konfliktparteien teilweise den Konflikt zu einem früheren Zeitpunkt beilegen.

 

Für die Opfer bieten restaurative Methoden eine zusätzliche Chance sich mit der Straftat auseinander zu setzen. In den Gesprächen erhalten die Opfer die Möglichkeit, ausstehende Fragen zu klären oder auch ihre Angst vor dem Täter zu überwinden. Beides sind Faktoren, welche die Opfer dabei unterstützen die Straftat zu verarbeiten. 
Die Umsetzung von Methoden der restaurativen Gerechtigkeit muss sehr detailliert geplant werden, um negative Effekte zu vermeiden. Opfer können re-traumatisiert werden, wenn sie dem Täter begegnen und ein Gespräch führen. Insbesondere deshalb ist es von zentraler Bedeutung, dass alle Beteiligten mit dem Vorgehen einverstanden sind. 


Vorausgesetzt die Vorbereitung und Durchführung entsprechen den Bedürfnissen aller Beteiligten, überwiegen die Vorteile restaurativer Methoden jedoch klar. Nichtsdestotrotz ist es für Pilotstudien in der Schweiz teils schwierig genügend Teilnehmende zu finden. Dies hängt teilweise mit der Schwere des Verbrechens zusammen. Weiter ist auch entscheidend zu welchem Zeitpunkt im gesamten Strafprozess die Methoden der restaurativen Gerechtigkeit zum Einsatz kommen. Dies kann sowohl vor den Gerichtsverhandlungen als auch nach dem Gerichtsurteil geschehen.


Die Einführung des Konzepts der restaurativen Gerechtigkeit in die schweizerische Strafprozessordnung wird im Parlament debattiert
Seit einigen Jahren werden restaurative Methoden gefördert. Der Europarat empfahl 2018 seinen Mitgliedstaaten, restaurative Gerechtigkeit in die Strafjustiz zu integrieren. Auch in der Schweiz gibt es immer mehr Bestrebungen in diese Richtung. Die hiesige Strafjustiz basiert zwar noch weitgehend auf dem Prinzip der Vergeltungsjustiz. Die Diskussion um die restaurative Gerechtigkeit wird jedoch bereits seit einiger Zeit geführt. Es gibt auch Kantone, die bereits Pilotprojekte durchführen. In Freiburg wurde beispielsweise das Jugendstrafgesetz angepasst und die Möglichkeit einer Strafmediation eingeführt. Dies hatte unter anderem zur Folge, dass die Anzahl Jugendrichter:innen nicht erhöht werden musste. Dieses Beispiel zeigt, dass sich die restaurative Gerechtigkeit auch finanziell lohnen kann. Seit 2017/18 werden sogenannte Restorative-Justice-Programme für Erwachsene Personen auch in der Justizvollzugsanstalt in Lenzburg und in Bostadel, sowie in Haftanstalten im Kanton Waadt durchgeführt. In Lenzburg ist dieses Pilotprojekt nun integrativer Bestandteil des Gefängnisprogramms. Innerhalb von diesem sind pro Jahr zwei Begegnungen zwischen Opfern und Täter vorgesehen. Im Kanton Waadt startete ein Pilotprojekt für junge Erwachsene in der Haftanstalt “Aux Léchaires” 2019. Nach positiven Erfahrungen wurde 2020 entschieden mit dem Pilotprojekt fortzufahren. 


Auch auf Bundesebene wir der Thematik viel Beachtung geschenkt. Im Rahmen der Änderung der Strafprozessordnung wird darüber diskutiert, ob das Konzept der restaurativen Gerechtigkeit in die Strafprozessordnung aufgenommen werden soll. Konkret bedeutet dies, dass beide Parteien über den restaurativen Weg informiert werden müssen – bisher ist von der jeweiligen juristischen Instanz abhängig, ob die beteiligten Personen über diese Möglichkeiten informiert werden oder nicht. Basierend auf einem Postulat von Lisa Mazzone (Grüne, GE) ist vorgesehen, dass sich beide Parteien in einem Strafverfahren auf eine Mediation einigen können und dass die Strafverfolgungsbehörde deren Ergebnis berücksichtigen kann. Es soll aber ausdrücklich keine Pflicht zur restaurativen Gerechtigkeit bestehen. Methoden der restaurativen Gerechtigkeit sollen vielmehr als ergänzende Massnahmen zu jedem Zeitpunkt des Prozesses möglich sein. 


Nachdem der Bundesrat die Aufnahme dieses Konzepts in die Strafprozessordnung abgelehnt hatte, nahm der Nationalrat im Frühling 2021 den Vorschlag an. Als nächstes wird die kleine Kammer die Revision der Strafprozessordnung beraten. 
Vielleicht werden also in Zukunft Methoden der restaurativen Gerechtigkeit die traditionelle Strafjustiz in der Schweiz ergänzen und so ermöglichen, den Menschen stärker ins Zentrum von Rechtsprozessen zu stellen. Wir sind sind auf jeden Fall gespannt darauf wie dieser neue Justizansatz in der Schweiz Fuss fassen wird! 


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