Föderalismus und Führungskultur in der Digitalisierung - Interview mit Vincenza Trivigno & Daniel Brändli, Staatskanzlei des Kanton Aargau

Banner SmartAargau

In unserem Interview berichten Vincenza Trivigno, Staatsschreiberin, und Daniel Brändli, Leiter der Abteilung Strategie und Aussenbeziehungen, aus der Staatskanzlei des Kanton Aargau über die Lancierung der kantonalen Digitalisierungs- und Modernisierungsstrategie SmartAargau - und zeigen auf, wie moderne Führung und Eigeninitiative, aber auch externe Umstände bei derartigen Innovationsprozessen ineinandergreifen.

 


Staatsschreiberin Vincenza Trivigno, Volkswirtin (lic. rer. pol. Universität Bern und exec. M.B.L. Hochschule St. Gallen), ist seit 2016 Staatsschreiberin des Kantons Aargau und seit 2019 Präsidentin ad interim des Institutsrats des Schweizerischen Heilmittelinstituts (Swissmedic). Zuvor war sie als Stellvertreterin des Vizedirektors Mitarbeiterin im Bundesamt für Konjunkturfragen (heute seco), Referentin von Bundesrat Pascal Couchepin im EVD (heute WBF), Senior Advisor Economic Affairs bei Syngenta, Mitglied der Geschäftsleitung bei Interpharma, Mitglied der Konzernleitung von Stadler Rail, sowie zuletzt als Generalsekretärin der Gesundheitsdirektion des Kantons Zug tätig.

Daniel Brändli, Historiker (lic. phil. hist. Universität Bern), ist seit 2006 Leiter der Abteilung Strategie und Aussenbeziehungen in der Staatskanzlei des Kantons Aargau. Zuvor war er als Gymnasiallehrer, Redaktor und Projektleiter (Vote électronique, Bundeskanzlei) tätig.


 

Die Bedürfnisse der Menschen haben sich in der Internet-Ära stark verändert. Heute sind sich die Leute gewohnt, Dienstleistungen schnell und unproblematisch mit einem Klick zu erhalten. Spüren Sie in der Verwaltung den Druck dieser veränderten Erwartungen?

Prinzipiell ja. Wir spüren, dass es die Leute zunehmend aufregt, wenn sie die Verwaltung nur zu Bürozeiten erreichen können. Aber was die Leute dabei gerne unterschätzen: Als Normalbürgerin oder -bürger haben sie in der Regel nicht oft mit der Verwaltung zu tun, weshalb der "digitale Leidensdruck" im Alltag auch nicht sehr hoch ist.

Der Druck steigt vor allem dort, wo es um regelmässige Abläufe geht. Bei der Steuererklärung zum Beispiel verstehen die Leute nicht, warum sie diese online ausfüllen können, um sie danach trotzdem ausdrucken und unterschreiben zu müssen. Das Strassenverkehrsamt war ähnlich exponiert, hat grossen Druck gespürt und konnte im Kanton mittlerweile auch einiges erreichen, was die Digitalisierung der Dienstleistungen betrifft.

Steht in der Schweiz in puncto Digitalisierung also alles zum Besten?

Natürlich nicht. Das wäre ein Trugschluss. Hierzulande gefällt man sich gerne in der Haltung, dass wir die Besten sind. Natürlich funktioniert die Verwaltung vergleichsweise gut, aber diese "Selbstzufriedenheit" hindert die Schweiz oft daran, zu merken, wo sie Defizite aufweist. Denn nur mit einer selbstkritischen Haltung kann man sich überhaupt mit einem Beispiel wie Estland auseinandersetzen und kompetent entscheiden, was dieses Land mit seiner digitalisierten Gesellschaft besser macht als wir und wo wir etwas lernen können.

Ebenso wichtig wie die Digitalisierung ist aber die Grundhaltung, die Offenheit gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern. Diese können sich in der Schweiz unkompliziert und unbürokratisch per Mail, Web-Formular, Twitter oder Telefon an die Verwaltungen wenden und erhalten in der Regel rasch eine Antwort. Dies ist eine Stärke, die bei einer weiteren Digitalisierung noch besser zum Tragen kommt.

Die Schweiz, das Land der kurzen und oft informellen Wege.

Die Verwaltungen sind bei uns verhältnismässig klein und sind auch dank des Föderalismus nahe bei den Bürgerinnen und Bürgern. So sind auch die Wege kurz.

Die Schweiz ist ein Land, das nur wenig allgemeingültige Standards braucht. Ist das ein Vor- oder Nachteil für die digitale Entwicklung im öffentlichen Dienst?

Das ist eine schwierige Frage. Bei nationalen Standards hat jeder Kanton sofort Angst, ihm werde etwas weggenommen. Dementsprechend kompliziert sind solche Standardisierungsprozesse. Kommt hinzu, dass der Bund und die Kantone in der Regel mit unterschiedlicher Geschwindigkeit unterwegs sind und Standardisierungsübungen oft eine ausbremsende Wirkung haben. Grundsätzlich gehen aber im Föderalismus Veränderungen nicht zwingend langsamer voran. Sie laufen einfach viel dezentraler ab.

Ich bin überzeugt, dass sich durch die Konkurrenz unter den Kantonen eine Eigendynamik entwickeln wird. Jene, die vorwärts gehen wollen, können dies recht agil tun. Als beispielsweise einige Kantonsregierungen mit papierlosen Sitzungen begonnen haben, kamen andere unter Druck, mussten sich plötzlich legitimieren und passten sich der Entwicklung an.

Im Föderalismus gehen Veränderungen nicht zwingend langsamer voran. Sie laufen einfach viel dezentraler ab.

Trotzdem habe ich das Gefühl, dass wir jetzt an einen Scheideweg kommen. Immer mehr Kantone sind der Meinung, dass der Zeitpunkt für Standards auf Bundesebene gekommen ist. Sobald eine kritische Masse von Kantonen eine solche Forderung aufstellt, wird standardisiert – der Druck muss aber von den Kantonen und Gemeinden kommen und nicht von oben.

Wie werden die Gemeinden bei diesem Weg mitgenommen?

Im Rahmen von e-Gov gibt es eine Vereinbarung zwischen dem Bund, den Kantonen und den Gemeinden. Aber manchmal können auch nicht alle Akteure gleichermassen einbezogen werden. SmartAargau ist ein gutes Beispiel und eine kantonale Strategie. Wenn man sich bei der Entwicklung einer Strategie mit allen 210 Gemeinden des Kantons austauschen müsste, wäre es unmöglich auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. Daher braucht es Schnittstellen, wo sich die Akteure auf strategischer Ebene austauschen können. Dafür gibt es bei uns die gemeinsame Fachstelle e-Gov mit den Gemeinden.

Wie sieht es bezüglich Venture Capital für die öffentliche Verwaltung aus? Sieht man die Schweiz und ihren Föderalismus als Labor? Könnte dies Raum für mögliche Laborexperimente geben?

Das ist eine politische und kulturelle Angelegenheit, da jeweils das Risiko besteht, dass ein Projekt nicht gelingt und Geld verloren gehen könnte. Aber in einem Labor muss auch experimentiert werden können. Und wo Neues ausprobiert wird, kann es unweigerlich auch zu Rückschlägen kommen. Einerseits muss man aus seinem Silo herauskommen. Dies nicht nur in einzelnen Departementen, sondern über alle Staatsebenen hinweg. Andererseits braucht es eine neue Fehlerkultur. In der Verwaltung herrscht teilweise eine Nulltoleranz gegenüber Fehlern und wenn es zu einem Fehler kommt, werden Schuldige gesucht. Das macht risikoavers. Nur wenn sich diese Kultur ändert, sind "Laborexperimente" und echte Innovationen auch möglich.

Eine solche Kulturveränderung bedingt auch ein verändertes Leadership-Verständnis. Wie geht man in Ihrem Bereich damit um, nicht Top-Down-Anweisungen zu geben, aber trotzdem eine Führungsrolle zu übernehmen?

Eine Führungsrolle zu übernehmen bedeutet nicht automatisch Top-down. Ich denke, dies ist eine veraltete Vorstellung. Führung zu übernehmen, heisst andere zu motivieren. Neben der "Basisdemokratie" (Einbezug aller) und dem beschriebenen und etwas antiquierten Führungsverständnis "Einer geht voran und alle hinterher" gibt es noch einen dritten Weg. Führen heisst dann vielmehr, eine Idee zu entwickeln, ein Ziel zu haben und auf dem ersten Wegabschnitt voranzugehen. Das macht gerade Strategien so wichtig. Dazu gehört aber auch, dass man den Leuten erklärt, wieso diese Strategie verfolgt wird. Führung bedeutet nicht, jede Entscheidung top-down zu treffen, sondern, die Art und Weise, wie ein Weg beschritten wird und die betroffenen Personen aktiv mitgenommen werden.

Führung zu übernehmen, heisst andere zu motivieren.

Das Führungsverständnis aber auch die Führungscrew verändert sich. Im Kanton Aargau werden in den nächsten zehn Jahren fast ein Drittel der Führungskräfte pensioniert. Ist das eine Herausforderung oder vielmehr eine Chance?

Selbstverständlich ist dies im digitalen Zeitalter auch eine Chance, gerade für die jüngeren ambitionierten Mitarbeitenden. Die grosse Herausforderung besteht darin, schnell vorwärts zu machen, damit der Abstand zu First-Mover-Ländern nicht zu gross wird. Der öffentliche Dienst muss um Talente kämpfen wie die Privatwirtschaft auch. Es stellt sich aber die Frage, ob wir in Zukunft weiterhin eine so personalintensive Verwaltung haben werden.

Sind öffentliche Dienste wirklich besorgt darum, geeignetes Personal für die Zukunft zu finden?

Ja, es rücken zu wenig junge Leute nach. Die Babyboomer gehen in Pension. Die nachkommenden Jahrgänge sind deutlich kleiner. Die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt ist bereits spürbar. Deshalb gilt es nach Lösungen zu suchen, wie gute Leistungen auch weniger personalintensiv erbracht werden kann. Der Wechsel auf der Führungsebene ist in absehbarer Zeit aber sicher auch eine Chance. Das Führungsverständnis verändert sich mit den Menschen, die neu dazu stossen.

Welche konkreten Aktivitäten gibt es, um diese verschiedenen Herausforderungen, das sich verändernde Führungsverständnis, die Personalentwicklung und noch weitere anzugehen?

SmartAargau ist eine Dachstrategie, ein Orientierungspunkt für viele weitere Strategien und Reformen. An ihr richten sich beispielsweise die Fachstrategien wie die IT-Strategie, die wir bereits definiert haben oder die Personalstrategie, die im Aufbau ist, aus. Mit der Fachstrategie Personal unterstützen wir den Kulturwandel hin zu einem moderneren Führungsverständnis und zu einer Fehlerkultur, die Innovationen fördert und nicht behindert. Von den Führungskräften wird jetzt mehr motivierende Führung – wie vorher erwähnt – verlangt. Sie müssen eine Richtung vorgeben und ihr Team mitnehmen und befähigen.

Wie ist SmartAargau eigentlich entstanden?

Wir mussten – wie so mancher Kanton – unsere Kantonsfinanzen sanieren. Neben notwendigen Reformen und Effizienzgewinnen ging es aber auch darum, in die Zukunft zu investieren. In diesem Zusammenhang erhielten wir den Auftrag, die Kundendienstleistungen und Verwaltungsprozesse zu modernisieren. Dafür standen uns während drei Jahren rund CHF 8 Millionen zur Verfügung. Wir haben sofort mit der Umsetzung von Projekten angefangen, bis wir gemerkt haben, dass wir die zahlreichen Ideen bündeln und aufeinander abstimmen müssen. Kurzum: Uns fehlte eine überdachende Strategie. Die Strategie SmartAargau haben wir parallel zur Umsetzung entwickelt. Man kann auch sagen, wir haben zuerst mit der Arbeit begonnen und auf dem Fundament der ersten Erkenntnisse die Strategie entwickelt.

Es gibt auch Beispiele, wo dieser Weg nicht funktioniert hat. Woran liegt es, dass es im Aargau so gut funktioniert?

Es war sicherlich die Gunst der Stunde. Der Kanton hatte finanzielle Probleme, und auch nach drei Sparprogrammen kam man immer noch auf keinen grünen Zweig. Daher entschied sich der Kanton für einen neuen Ansatz: Nicht mehr nur sparen, sondern aktiv gestalten und verändern. Daher auch unser Budget für drei Jahre von rund CHF 8 Millionen, um unterjährige Projekte zu realisieren und eine Starthilfe für Innovationen zu bieten. Zudem haben wir mit aktiver Kommunikation in der gesamten kantonalen Verwaltung den "sense of urgency" geschaffen.

Welche konkreten Projekte und Projektideen sind denn aus diesem Prozess heraus entstanden?

Gerne nenne ich Ihnen ein Beispiel, welches auch stellvertretend für viele andere steht. Eine Mitarbeiterin, die keine besondere IT-Ausbildung hat, sondern reine Anwenderin ist, konnte den Geschäftsplanungsprozess deutlich vereinfachen. Sie hat das ganz alleine entwickelt obwohl für einen externen Auftrag 30’000 CHF zur Verfügung gestellt wurden. Da sie sich aber selbst so reingekniet hat, hat sie nur 3’000 CHF gebraucht. In zahlreichen anderen Projekten erleben wir, dass jene Personen, die sich in der täglichen Praxis inmitten eines Prozesses befinden oder sich mit einer Dienstleistung befassen, oftmals die besten Innovatoren und Gestalter für Veränderungen sind.

Genau hier möchten wir ansetzen und unsere Mitarbeitenden befähigen und motivieren, Innovationen selber voranzutreiben und mitzugestalten. Dieses Potenzial müssen wir nutzen, denn es mangelt an spezialisierten Fachkräften. Auch können wir nicht für alles eine Person mit spezifischer Qualifikation einstellen. Damit dies gelingt, müssen wir noch klarer machen, dass Digitalisierung nicht gleich IT ist.


 

Wir haben dieses Interview vor der Corona-Pandemie mit Ihnen aufgezeichnet. Inzwischen haben sich die Anforderungen an die Digitalisierung öffentlicher Dienstleistungen stark verändert. Können Sie uns ergänzend die Frage beantworten, welche Impulse dahingehend die Corona-Pandemie in der öffentlichen Verwaltung ausgelöst hat und inwiefern sich die Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger sowie der Wirtschaft an staatliche Dienstleistungen verändert haben?

In den letzten zwei Monaten haben wir "funktioniert". Für Reflexionen war wenig Zeit vorhanden. Als wir keine physischen Sitzungen mehr durchführen konnten, mussten wir notgedrungen auf Skype & Co. ausweichen. Es gab schlicht keine andere Alternative – und siehe da – es geht prima. Es gibt kein Wenn und Aber. Der Technik sei Dank, findet sich jedoch ein Weg. Der Kontakt mit Unternehmen, Bürgerinnen und Bürgern hat sich durch die Corona-Krise massiv erhöht. Hauptsächlich geht es um Fragen und Anliegen zum Wirtschaftsprogramm mit Notkrediten, zum Shutdown und aktuell zu den schrittweisen Lockerungen. Schnell und unbürokratisch haben wir die erforderlichen Dienstleistungen digital erfüllt. Allein in den letzten Wochen haben wir über 10'000 Mailanfragen einzeln beantwortet.

Zum Glück haben wir wichtige Voraussetzungen für ein mobiles Arbeiten und Zusammenarbeiten mit den Kundinnen und Kunden sowie innerhalb der Kantonsverwaltung bereits vor der Pandemie geschaffen. Ohne digitale Dienstleistungen, Prozesse, Vorleistungen in Richtung 'new work' und SmartAargau hätte die Verwaltung in den letzten Wochen nicht so gut funktioniert. Corona hat uns aber auch Schwachstellen aufgezeigt, die wir jetzt ausloten werden. Ein weiteres grosses Potenzial für Verbesserungen und Veränderungen ist in dieser Zeit zutage getreten.

Die Strategie SmartAargau ist noch lange nicht umgesetzt. Die Bedürfnisse der Gemeinden und Unternehmen und die Anliegen der Aargauerinnen und Aargauer haben sich mit der Coronavirus-Krise verändert und akzentuiert. Die neuen Erkenntnisse nehmen wir in die nächste Phase mit. Ganz wichtig ist es, dass wir in der Schweiz jetzt schnell eine möglichst breite E-ID-Abdeckung erreichen. Deshalb ist auch die Volksabstimmung zum neuen E ID-Gesetz, die noch ansteht, ganz wichtig. Die digitale Signatur ist Voraussetzung für bedeutende Erleichterungen und die Vereinfachung und Beschleunigung vieler Kundenprozesse.